»Man hört
so oft die Blasmusik ist heut’ nicht mehr modern / Und trotzdem hör’ ich sie
halt immer wieder gern. / Denn überall, wo Blechmusik erklingt, ihr liebe’
Leut’ / Ja, da herrscht Jubel, Trubel, Heiterkeit.«
Mit hochgekrempelten Ärmeln
und in seiner Dachdeckerschürze steht Ernst Neger[1] 1964 in einem Sitzungssaal
in Mainz am Mikrofon und singt Das Humbta-tätärä. »Der singende
Dachdeckermeister«, wie er auch genannt wurde, führte via Fastnacht, Fernsehen
und mitunter sogar in den Hitparaden einen humorvollen Kampf gegen die neuen
Zeiten in der Bundesrepublik und deren Musikrichtungen wie den Rock’n’Roll. Ein
populärer Austragungsort waren die Musikboxen in den Gaststätten, in denen
45er-Singles liefen.
Das Dossier ist in drei Abschnitte geteilt. Sie können es mithilfe der Buttons entweder chronologisch oder thematisch lesen. Eine Infobox zur Mikrorille bietet zusätzliche Informationen.
Bei diesem Musikobjekt handelt es sich um eine 45er-Single von
Ariola aus dem Jahr 1965. Aufgenommen sind die Songs Geb’ dem Kind sein
Nuddelche und Ich stemm’ die Fleischwurst, von Ernst Neger. Die
Platte gelangte durch den Sammler Jörn Stubbmann, vermutlich in Norddeutschland
erworben, nach Freiburg.
Die Schallplatte ist schwarz, mit einem Durchmesser von 7 Zoll (ca. 17 cm) und ist beidseitig bespielt. Die roten Papieretiketten (Labels) umlaufen das breite Mittelloch, typisch für 45er-Singles außerhalb von Großbritannien (vgl. Abb. 1 a-b). Der häufig eingesetzte sternförmige Puck aus Kunststoff, der die Single auf privaten Abspielgeräten universal einsetzbar machen würde, fehlt. Es handelt sich um einen analogen Tonträger aus Vinyl, die Schallinformation ist in Seitenschrift und in Mono gespeichert (Berliner 1887; Dyer 1929). Auf den Plattenseiten befindet sich der eingepresste Hinweis »Made in Germany« sowie offizielle Verlagsangaben zur Serienproduktion (GC 18600/01 A-3, GC 18600/01 B-3). Der Tonträger ist in einem guten Zustand, es findet sich leichter Staub in den Rillen, und unauffällige Abnutzungsspuren sind vor allem am äußeren Rand (Einlaufrille) zu finden. Kratzer auf A- und B-Seite könnten möglicherweise durch die Abspielhalterung einer Jukebox und das Ein- und Ausführen aus deren Magazin entstanden sein. Flecken und ein muffiger Geruch deuten auf eine (zeitweise) Lagerung in einem feuchten Raum hin, typischer Kneipen-Nikotingeruch fehlt indessen.
Die
Beschriftung ist größtenteils lesbar und enthält den Namen des Musiklabels,
den Titel des Stücks mit Angaben zu Komponist und Künstlers sowie weitere
Informationen, etwa Seriennummer und Rechte. Der Name des Musiklabels Ariola
ist in einer geschwungenen Schreibschrift verfasst. Das rote Label ist am Rand
des Mittellochs aufgekratzt, auf dem Label finden sich auffällige kreisrunde
Abnutzungsspuren im äußeren und inneren Bereich. Diese sind auf der A-Seite (Geb’
dem Kind sein Nuddelche) ausgeprägter als auf der B-Seite (Ich stemm’
die Fleischwurst). Die Abnutzungsspuren auf dem Label lassen sich nicht
kohärent deuten. Offenkundig war das Label zunächst auf der B-Seite
beschädigt worden, bevor auf A- und B-Seite ein Stempel der »Gaststätte
Breedlandstube« quer zum Text aufgedruckt wurde. Wann der Stempel aufgebracht
wurde, lässt sich nicht nachvollziehen. Es ist denkbar, dass die Stempel Element
des lokalen Distributionssystems für die Jukeboxen waren oder dass die
Gaststätte selbst damit ihre Singles markiert hat.
Die schlichte Gestaltung deutet darauf hin, dass eine pragmatische Nutzung der Single angedacht war und auch international exportiert werden sollte. Sie lässt sich klar dem Label Ariola und nachgeordnet dem Künstler Ernst Neger und einer deutschen Produktionsreihe zuordnen. Insgesamt macht sie nicht die Anmutung eines Gegenstands, der lang genutzt werden sollte. Es scheint dementsprechend konsequent, dass sie auf der Anwendungsebene deutliche, teilweise zerstörerische Nutzungsspuren und eine unachtsame Besitzdeklaration in Form eines Stempels aufweist.
Im Kontrast dazu steht die Hülle bzw. das Sammelbuch, mit denen der Tonträger in der Sammlung Stubbmann steht (vgl. Abb. 2). Das
Sammelbuch im Archiv des ZPKM ist mit einem orangenfarbenen, dicken
Schlangenlederimitat aus Kunststoff umschlagen, das mit einer Schnalle aus
demselben Material und einem Druckknopfverschluss aus Metall befestigt ist. Ein
Haltegriff zum Transport ist an der Hülle angebracht. Das
Buchbesitzt Einsteckhüllen aus durchsichtigem Plastik, worin sich die
Papierhüllen der jeweiligen Singles befinden. Das Innendesign
besteht aus schwarzem Plastik mit matt glänzender Oberfläche, das sich auch
innen an der Schnalle und grundsätzlich am Haltegriff findet. Durch das Design
ähnelt das Sammelbuch einem Fotoalbum. Die Single-Sammlung Stubbmann ist
offensichtlich alphabetisch geordnet; bei dem Sammelbuch handelt es sich um
einen Ordner, in dem Interpret*innen mit den Anfangsbuchstaben »Ne« abgeheftet
wurden. Die Nutzungsspuren an dem Sammelbuch sind im Vergleich zu denen an den
Singles marginal. Insgesamt scheint diese Form der Aufbewahrung eher einen
konservierenden Charakter zu haben und dabei eine leichte Zugänglichkeit zu
gewährleisten.
Abb. 1 a-b: Die
45er-Single Geb’ dem Kind sein Nuddelche, Seite A.Und die
Papierschutzhülle der 45er-Single Geb’ dem Kind sein Nuddelche mit dem
Stempel der Gaststätte Bredlandstube.
Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte der
populären Kultur, 2019
Die 45er-Single hat ihren Ursprung
in den 1930er-Jahren und ist eng mit der Ablösung des Materials Schellack durch
Vinyl verbunden. Bis in die 1940er-Jahre war Schellack das Hauptmaterial für Schallplatten. Ab 1929 und den frühen
1930er-Jahren kamen Tonträger auf den Markt, die bereits umfangreichere Abspiellängen boten und damit das Konzept der LP antizipierten (vgl. White/Louie
2005: 488). Vor allem das Material und das Eingravieren
der Rillen stellten seit den 1920er-Jahren ein wichtiges Entwicklungsfeld dar. Ein
wichtiger Akteur in der US-amerikanischen Plattenindustrie diesbezüglich war
Edward Wallerstein, der von einem ersten Plattenhändlerjob 1920 in den
kommenden zwei Dekaden nacheinander in die Geschäftsführung zweier
US-Plattenlabels – erst RCA Victor, dann Columbia Records – aufstieg. Er hatte in beiden Firmen wiederholt mit der Frage zu tun, wann die Einführung
von Tonträgern mit längerer Laufzeit, Mikrorille und einem neuen Material
sinnvoll wäre. So hatte RCA Victor bereits um 1916 mit Langspielplatten
experimentiert und in den 1930er-Jahren eine 33 1/3-LP auf den Markt gebracht. Wallersteins erste Amtshandlung bei RCA
Victor bestand jedoch in der Einstellung der Testreihen mit Langspielplatten im
Jahr 1933 (vgl. Wallerstein o.J.). Ein Teil der LPs bestand
aus Schellack, die meisten aber bereits aus einem Mischstoff namens Victorlac,
einem Vinyl-Gemisch, das erfolgreich für Transcription Discs (vorproduzierte
Radiosendungen) eingesetzt wurde. Diese wurden nur einige Male abgespielt, für
das häufige Abspielen im privaten Gebrauch – d. h. für den Massenmarkt und die
bis dato existierenden Widergabegeräte – hingegen war das Material wegen der weichen
Oberfläche problematisch.
Nach Wallersteins Wechsel zu
Columbia Records begannen dort ab den 1940er-Jahren, unter der Führung des
Ingenieurs Peter Goldmark am Vinyl-Projekt für den Massenmarkt (vgl. ebd.). Parallel
zum Material entwickelte man auch neue Tonabnehmernadeln. Die Vinylpressung war
zunächst teurer als andere Verfahren der Tonträgerherstellung. Während des
Zweiten Weltkriegs begann das US-Militär erfolgreich Tonträger auf Vinylbasis
zu produzieren. Als nach Kriegsende der Bedarf an privater Musik wieder
erheblich zunahm, etablierte sich Vinyl rasch als neues Material für den
Musikmassenmarkt (Gronow/Saunio 1999: 98). Bei Columbia wurde deshalb ab 1946
auch das Projekt der Vinyl-Langspielplatte mit neuer Intensivität verfolgt. Die
Fertigstellung und Vorstellung 1948 wurde begleitet von und flankierend
beworben mit einem neuen Schallplattenspieler, der nun Tonträger mit 78 und 33
1/3 Umdrehungen abspielen konnte. Und im selben Jahr stellte Columbia bzw. der Mutterkonzern
CBS die Produktion und Nutzung bereits gänzlich auf Vinyl um (vgl. ebd.). Während
Columbia die LP entwickelte, hatte RCA Victor seit Ende der 1930er-Jahre seinen
Fokus von Langspielplatten auf ein Vinyl-Singleformat – die 45er-Single – sowie
auf ein dazugehöriges Abspielsystem verlegt (vgl. Osborne 2012: 121).[2] Das Billboard Magazine begrüßte die Entwicklung der beiden Vinylformate 1948: »Isn’t it about time the record business raised its standard of quality? It’s been a long time coming« (Csida 1948: 21).
Um die
Formate entwickelte sich im weiteren Verlauf die ›Battle of the Speeds‹. Die Labels
versuchten, über verschiedene Tonträgerformate und Werbekampagnen den Markt
für sich zu gewinnen. Der Formatkrieg endete bereits in den frühen
1950er-Jahren. Zum einen standen zunehmend Abspielgeräte zur Verfügung, die die
verbreitetsten Tonträgerformate abspielen konnten, zum anderen erhielten die 45er-Singles
ihren Platz in den populären Jukeboxes (vgl. Segrave 2002: 213). Erstaunlich
wenig Aufmerksamkeit erhielt während der ›Battle of the Speeds‹ das Material.
Die konkrete Bezeichnung als »Vinyl«, wie von Richard Osborne in Vinyl – A
History of the Analogue Record skizziert, erfolgte vielmehr erst mit der Einführung der (und in Abgrenzung zur) Musikkassette
und Compact Disc. Affirmative Zuschreibungen des Materials als »›warm‹ and ›organic‹«
(Osborne 2012: 69), die heute zentral für die Langspielschallplatten sind,
spielten zunächst weder für die LPs noch für die Singles eine Rolle.
In Deutschland stellten die 45er-Singles ab den 1950er-Jahren neben der Langspielplatte (LP), die in Deutschland ab 1951 auf den Markt kam, und der Extended-Play-Schallplatte (EP) die zentralen Tonträgerformate dar. LPs und Singles ergänzten sich und entwickelten sich zu den zwei Säulen der Musikwirtschaft
Die sieben Zoll großen »Single«-Tonträger aus Vinyl, die mit 45 Umdrehungen pro Minute abzuspielen sind und zwei Lieder fassen, wurden 1953 in Deutschland eingeführt (Rudorf 1998: 21). Ernst Negers früheste Single Warum Denn Uff Den Mond E’nuff wurde 1959 bei Odeon veröffentlicht. Der Sänger war in den deutschen Charts bis zu seinem Tod 1989 mit 121 Singles und elf Alben gelistet, von denen die Alben Das grosse Humbta-Tätärä (Platz 30, 1965), Die große Stimmungsparade (Platz 20, 1966) und besonders die Single Das Humbta-tätärä (Platz 15, 1964) größeren nationalen Absatz fanden (vgl. Offizielle Deutsche Charts 2019). Für die Mainzer Karnevalskünstler*innen waren Platten mit der Möglichkeit verbunden, Geld zu verdienen, da die Auftritte in der Fastnacht zunächst nicht vergütet wurden. Der Produktionsweg der Singles verlief dabei häufig von der Komposition[3] über die Aufführung bei den Mainzer Karnevalssitzungen hin zur Produktion durch die Plattenfirma. Die Ariola wurde 1958 als hauseigene Plattenfirma des Bertelsmann-Konzerns im Zuge der Expansion des Buchanbieters gegründet. Die Erweiterung ins Schallplattensegment war die logische Konsequenz einer zunehmenden Ausweitung des Geschäfts des Monopolisten im Buchversandhandel der 1950er-Jahre. Zunächst belieferte die Ariola den hauseignen Lesering mit Vinyl-Schallplatten (Lehning 2004: 169). Mit einzelnen Künstler*innen in den Charts setzte eine aktive Expansionspolitik ein. In den 1960er-Jahren unterzeichneten einige der wichtigsten Namen beim Label in Gütersloh (ab 1969 München), etwa Peter Alexander, Heintje (vgl. ebd.: 171) oder Udo Jürgens (vgl. Bastian 2003: 686). Diese Stars machten die Ariola »synonymous with German schlager« (ebd., kursiv im Orig.). Ernst Neger wurde scheinbar vor allem in der Karnevalszeit intensiv beworben. So heißt es 1965 im Billboard Magazine: »Ariola’s hit Humbta-Tatara [sic] is the motto of the Mainz carnival this year. Music and text were written by Toni Jaemmerle [sic], a blind phone operator in the Giessen Justus-Liebig University. Ariola’s disc is sung by Ernst Neger« (Anderson 1965: 18). Die Aprilausgabe vermeldete kurz darauf sogar »Humbta-Tatara, a carnival tune, is a hit« (ebd.). Insbesondere die Verbindung von Schlagern, Volksliedern und gesprochener Unterhaltung (re-)etablierte für die einzelnen Regionen im Nachkriegsdeutschland spezifische Märkte, deren zentrales Element ein humoristisches Lokalkolorit war, das sich jedoch mitunter für ein größeres Publikum nutzbar machen ließ. Die Plattenfirmen veröffentlichten von den Sendungen eigene Tonträger, wie die LP Heinz Schenk und seine Gäste – Zum Blauen Bock (1984, Ariola) oder die exklusiv für den Deutschen Schallplattenclub vertriebene Single Ernst Neger – Mainz wie es singt und lacht (o.J., Telefunken). Im Jahr 1968 expandierte Ariola schließlich auch ins Kassettengeschäft.
Im Werk von Ernst Neger finden
sich mitunter Anspielungen, die konkret auf den Rock’n’Roll gerichtet sind und
sich davon abgrenzen – was für das Verständnis des Erfolgs des Künstlers wichtig
ist. So heißt es beispielsweise in Das hab’n wir nicht (1974):
»Früher,
da gab es beim Tanzen noch Musik [...] / Heute, da spielt man nur Rock’n’Roll
und Beat / Und willst du mal ’nen Tango hör’n / dann singt man dir dies Lied /
Das hab’n wer net, das gibt’s nicht mehr, das krieg’n mer nicht mehr rein«.
Hier
verbindet sich eine wertkonservative Weltanschauung, die in der humoristischen
Form des Karnevalsschlagers – beispielsweise im selben Lied – auch das
Aufkommen des Feminismus und der Überflussgesellschaft thematisiert. Geb’
dem Kind sein Nuddelche handelt eigentlich launig davon, ein weinendes Kind
zu beruhigen, wird an einer Stelle jedoch auch politisch: »Als das
Humbta-tätärä hier einmal erklunge’ / Hat es bald scho’ Groß und Klee uff
de’ Gass gesunge’ / Mancher hat sich dran gestört, ich jedoch fand’s schön /
Denn ich konnt’ den Bildungsnotstand damit übergeh’n«
. Die symbolische
Doppeldeutigkeit: Schreihälse und junge Quertreiber, die nicht wissen, was sie
wollen, stellt man mit einem Schnuller ruhig. Doch ist die Welt in Negers Schlagern
nicht zwangsläufig so harmonisch, wie in der Kritik am Schlager als »Ersatz der
Gefühle« (Adorno 1980: 41) oder »betäubende Litanei« und »Beschwörung einer taumhaften
Nichtwirklichkeit« (Rabenalt 1959: 24) anklingt. Im Gegenteil, es wird auch bissig,
gesellschaftskritisch und teilweise konfrontativ, wie auch im Karneval. Die
Konflikte lösen sich bei Neger jedoch meist im Humor und Nonsens auf.
Ästhetisch
kann in der Figur Ernst Neger auch ein Rückgriff auf den Nostalgieschlager der
frühen 1930er-Jahre mit seinem Handwerksbezug (vgl. für den Nostalgieschlager
Waldner 2011: 110) gelesen werden. Er wurde häufig in seiner Dachdeckerschürze
abgebildet, die ihn deutlich von den Tanzkapellen und eleganteren
Schlagersänger*innen der 1950er-Jahre unterschied. Besonders im Vergleich zum »Fernwehschlager«
(Bieber/Helms 2013: 355) beschworen viele Mainzer Fastnachtslieder zunächst
die Schönheit der Heimat. Die Inszenierung ist eine interessante Form der ›Authentisierung‹
durch einen Amateurstatus, die im Kern eine starke Bodenständigkeit
kommuniziert. Dies spiegelt sich in einer Einschätzung der Musikethnologin
Gisela Probst, die den Stimmungsschlager von Neger 1978 »zwischen Schlager und
Volkslied« (Probst 1978: 39) verortet.
Diese Einschätzung deckt sich mit der Rezeption des Liedes bzw. mit seinem Erlebnispotenzial. Drei Rezeptionsräume sind hierbei wesentlich. Erstens fanden sich die Lieder in Fernsehübertragungen der Mainzer Fastnacht, die als Präsentationsfläche für die Inhalte der Singles genutzt wurde, sowie im Kontext von Familienfernsehshows zuhause. Zweitens ermöglichten privat erworbene Tonträger die Heimaufführung. Drittens ergaben sich durch dieselben Tonträger Möglichkeiten für eine öffentliche Aufführung im Radio oder in Gaststätten, wie sich in den Nutzungsspuren von Geb’ dem Kind sein Nuddelche nachweisen lässt.
Die Single ermöglichte eine Musikgestaltung des öffentlichen Raums
nach den unterschiedlichen Wünschen der Nutzer*innen. Im Kontext der Jukebox
als »Gaststättenmöbel« (Honold 2017: 313) ergibt der Einsatz einzelner
deutschsprachiger, humoriger Unterhaltungsstücke durchaus Sinn, denn mit der
Jukebox wurden vor allem Gemeinschaft und Geselligkeit verbunden – gerahmt durch
die »profitökonomisch auf maximal 3 Minuten beschränkte« (Heister 2003: 327)
Kürze der Singles, was immer wieder Auswahlvorgänge notwendig machte.
Auffällig an den
Abnutzungsspuren ist, dass die A-Seite (Geb’ dem Kind sein Nuddelche) stärkere
Gebrauchsspuren hat als die B-Seite (Ich stemm’ die Fleischwurst). In
den Spuren tritt eine spezifische Handlungspraxis zutage, die sich beispielsweise
von einer sorgsamen Nutzung der Singles im Sammlerbereich unterscheidet. Allgemein
sind häufige Wiederholungen (über 1.000 Spieldurchgänge) und eine rasche
Handhabung der Abspieltechnik durch die Wechslerautomatik und
Musikbox-Inszenierung typisch für Jukebox-Singles (vgl. Abb. 5). So erbte eine
Person, die im Hi-Fi-Forum berichtete, eine Vielzahl von alten Jukebox-Schallplatten,
die von den Neonröhren in den frühen Musikboxen milchig verfärbt waren, mit
Kratzern übersät von frühen »Keramiktonabnehmern [...] und die teilweise über
Kratzer verfügten, weil Gäste die Jukebox in eine Richtung verschoben, weil sie
ihnen an der aufgestellten Position zu leise war: »Da ja so eine Musikbox
schwer ist, wurde dadurch eine Schramme durch die über ihre Abtastfähigkeit
hinaus erschütterte Nadel im Vinyl verewigt« (Anonym 2014).
Neben solchen Einwirkungen waren Singles über diese Zeit hinaus einem weiteren Zyklus unterworfen, der vermutlich auch anzeigt, warum Geb’ dem Kind sein Nuddelche schließlich seinen Weg in einen Privathaushalt fand: In den 1970er-Jahren verkaufte mindestens eine Flensburger Kneipe, das Flamingo, Singles für 50 Pfennig (vgl. Anonym 2012). Es ist anzunehmen, dass diese Praxis verbreitet war und dass viele ehemalige Musikbox-Schallplatten entweder direkt oder zusammen mit dem Abspielgerät im Verlauf der 1970er- und 1980er-Jahre veräußert wurden. Das Nuddelche konnte so Eingang in das Sammelbuch von Jörn Stubbmann finden.
Ernst Neger bleibt, obwohl außerhalb der Rhein-Main-Region spürbar
in Vergessenheit geraten, aufgrund seiner Rolle in der Mainzer Fastnacht bis
heute eine medial erinnerte Figur der deutschen Nachkriegsgeschichte. Sein
Andenken wird vor allem zur Karnevalszeit aufrechterhalten und erfährt durch
seine Wegbegleiter*innen, Nachfahren und Chronist*innen eine starke symbolische
Aufladung. Hinzu kommen jene Songs wie das »Humbta-tätärä«oder auch »Rucki
Zucki«, die, ihrem ursprünglichen Kontext enthoben, in neuen Anwendungsbereichen
wie dem Fußballstadion oder bei Festivitäten unterschiedlichster Art Bedeutung
gewonnen haben. Bis heute tauchen in Archiven, alten Sammlungen und auf
Flohmärkten Ernst-Neger-Tonträger häufig auf. Die 45er-Singles kosten heute
auf Schallplatten-Plattformen meist nicht mehr als einen Euro, einige
ausgewählte Stücke finden sich auch bei Streaming-Anbietern. Historisch betrachtet,
dokumentieren diese Singles die Wege der Popularisierung von Künstler*innen in
der Bundesrepublik und zeigen, wie die Inszenierungsstrategien der Interpret*innen
und die verschiedenen Rezeptionsräume der Tonträger neue Wege des Musikkonsums
eröffneten. Aus der Mainzer Fastnacht und der Fernsehaufbereitung der frühen
Unterhaltungskünstler*innen fand eine Single mit rheinhessischen
Stimmungsschlagern den Weg in eine Kneipe in Norddeutschland, in der sie
vermutlich häufig gespielt wurde, bevor sie irgendwann die Weg zu einem
privaten Nutzer fand.
Der Blick auf Musikobjekte wie Geb’ dem Kind sein
Nuddelche aus dem Jahr 1965 eröffnet, ausgehend von den tatsächlichen
Nutzungszusammenhängen (deutliche Abnutzung, Fehlen des Covers, achtlos
platzierte Aufkleber und Stempel), den Blick auf typische Konstellationen, in
denen populäre Musik produziert, vertrieben und erlebt wurde. Die Single wurde,
als Standardelement in einem Unterhaltungsensemble, zu einem schnell
austauschbaren, günstigen Element der Unterhaltung, das in seiner Genrevielfalt
ein breites Spektrum von Nutzer*innen ansprechen sollte. Über ein spezifisches
Vertriebsnetzwerk – unter anderem in Rücksprache mit den Lokalen und Kneipen –
fanden einzelne Tonträger eine Verbreitung, die jenseits jener Songs lag, die
die Charts dominierten. Die Singles waren in diesem Sinne das vielleicht
einzige Instrument in der Geschichte der (populärer) Musik, das die Hörer*innen
in die Lage versetzte, selbst die Musik des öffentlichen Raumes zu
organisieren und in sozial akzeptierter Weise zu ›verwalten‹. Singles und Jukeboxen
sind heute zumeist Liebhabergegenstände, aber durchaus auch Möbel in
Gaststätten, die in einem Retrolook eingerichtet sind (vgl. Abb. 4). Jukeboxen
mit Single-Schallplatten haben sich zugleich zu einem Signet jener Jahre
gewandelt: So porträtiert der norwegische Erfolgsautor Lars Saabye Christensen
in seiner fiktionalen Biographie Sluk eine nicht funktionstüchtige Wurlitzer-Musiktruhe
schließlich konsequent als »nichts anderes als ein Grab für alte Schlager«
(Christensen 2013: 284).
DAS DOSSIER WURDE VERFASST VON LAURA NIEBLING.
Einzelnachweise
[1] Ernst Hugo Neger (1909–1989) war ein Dachdecker, der als 'Ernst Neger' bzw. als 'der singende Dachdeckermeister' in der Mainzer Fastnacht auftrat und Musik produzierte. Kontroversen entstanden wegen des alten Logos der bis heute bestehenden Dachdeckerfirma, die inzwischen als Unternehmen mit verschiedenen Sparten von den Enkeln weitergeführt wird. Das stereotyp-stilisierte Bild eines Menschen mit dunkler Hautfarbe auf dem Logo wird als rassistisch kritisiert und sorgt seit Jahren für Proteste und Grundsatzdiskussionen, die über den lokalen Konflikt in Mainz hinausreichen.
[2] Hierzu ergänzte RCA Victor noch die EP (Extended Play) als längeres Zwischenformat (vgl. Gronow/Saunio 1999: 98). Sie ähnelte der Single (und wurde teilweise in Umsatzstatistiken in einer Kategorie mit ihr gewertet), konnte aber mehr Musik speichern.
[3] Die Texte schrieb der hauptberufliche Dachdeckermeister häufig selbst, die Melodien gingen zunächst zu einem beträchtlichen Teil aus seiner Zusammenarbeit mit dem hessischen Komponisten Toni Hämmerle hervor, stammten bald aber auch von anderen Komponisten wie der hessischen Tanzkapelle Adam und die Micky’s, wie deren Bandchef Dieter Adam in der Bandbiographie erinnert (vgl. Adam 2018: 34). Später kritisch reflektiert wurde die Aneignung von Melodien durch Neger und Hämmerle, die sich für die Lieder oftmals bereits bekannter Melodien, wie der eines französischen Marschs (Geb’ dem Kind sein Nuddelche), oder auch des sowjetischen Weltjugendlieds von Anatoli Grigorjewitsch Nowikow (Das Humbta-Tätärä) bedienten (vgl. Wenzel 2019: 19).
Quellen
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Anonym (2012): Kommentar in der Facebook-Gruppe ›Wenn du in Flensburg aufgewachsen bist…‹, 13.06.2012.
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Abbildungen
Abb. 1 a-b: Die
45er-Single Geb’ dem Kind sein Nuddelche, Seite A, und die
Papierschutzhülle der 45er-Single Geb’ dem Kind sein Nuddelche mit dem
Stempel der Gaststätte Bredlandstube
. BMBF-Projekt Musikobjekte der
populären Kultur, 2019.
Abb. 2: Die Sammlerbücher der Sammlung Stubbmann im ZPKM. Klaus Polkowski/Universität Freiburg.
Abb. 3: Die im Sammlerbuch folgende Ernst-Neger-Single Was sein muß, das muß sein. Benjamin Burkhart.
Abb. 4: Eine Wurlitzer-Jukebox mit Singles steht in einer Gaststätte. Nuno Lopes auf Pixabay.
Abb. 5: In der Wechslerautomatik einer Jukebox sind die Singles aufgereiht und können angewählt werden. blitzmaerker auf Pixabay.