Bessie Smith – St. Louis Blues (1947)

Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur, 2019

Die Ursprünge der Schallplattensammlerszene nach 1945

Die mühsam geflickte Platte St. Louis Blues ist Zeugnis der schweren Anfangsjahre der deutschen Musiklandschaft nach 1945 und der bewegten Anfangsgeschichte der ersten Tonträger. Bei diesem Musikobjekt der populären Kultur handelt es sich um einen Filmsoundtrack auf zwei Schellackschallplatten in einem Boxset aus dem Jahr 1947. Das Album der Künstlerin Bessie Smith (1894–1937) wurde von der New Yorker Firma Circle Records produziert und liegt mit einer abgegriffenen, bunt bedruckten Papphülle (Buch-Cover) im A4-Format vor, in der sich zwei Schellackplatten befinden, jeweils in einer eingeklebten Papierhülle. Der ursprüngliche Preis des Albums lässt sich nicht mehr feststellen; es befindet sich in der Sammlung Günter Boas im Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach. 

Das Dossier ist in drei Abschnitte geteilt. Sie können es mithilfe der Buttons entweder chronologisch oder thematisch lesen. Eine Infobox zu Emile und Joseph Berliner in Hannover bietet zusätzliche Hintergrundinformationen.

  Infobox Emile und Joseph Berliner IN Hannover

Emile Berliner (1851–1929), in Hannover als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, emigrierte 1870 in die USA. Im Selbststudium eignete er sich Kenntnisse zur Elektrizität und Akustik an; seine ersten Patente waren 1877 Beiträge zur Mikrofontechnologie für das neue Telefon. Die wichtigste Entwicklung stellte jedoch seine Hinwendung zur Schallplatte dar, die 1887 zum Grammophon und zur Schallplatte führte (vgl. Altendorfer 2004: 215). Wiederholt reiste Berliner nach Hannover, wo er mit seinen Brüdern Jacob und Joseph zum einen die Telefonfabrik ausbaute und zum anderen Möglichkeiten zur Produktion der Schallplatten einrichtete (vgl. Kwiecinski 1973: 216; Tasch 1987: 43). Joseph Berliner (1858–1938) hatte derweil erfolgreich sein Telefongeschäft in verschiedene Länder ausgeweitet und gründete nun 1898 mit seinem Bruder Emil ein weiteres Unternehmen – die Deutsche Grammophon Gesellschaft. Nach frühen Erfolgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde ein eigenes Firmengebäude, das erste offizielle Presswerk der Welt, nötig. Die Deutsche Grammophon prägte mit ihren verschiedenen Standorten in Hannover die Firmenlandschaft der Stadt bis ins 21. Jahrhundert. Für sein Lebenswerk erhielt Emil Berliner im Verlauf seines Lebens immer wieder Akkoladen (vgl. z. B. seine Biografie in Popular Science: Clarke 1926: 31 und 114) und Auszeichnungen (wie die Benjamin Franklin Medaille kurz vor seinem Tod 1929). Berliner und seine Familie standen im Übergang ins 20. Jahrhundert im Mittelpunkt einer transnationalen Entwickler- und Wissensgeschichte, die in ihrer Gesamtheit bis heute nicht aufgearbeitet ist und nach 1945 zunächst drohte, in Vergessenheit zu geraten. Neben der komplexen Mobilität der großen Familie, zu der auch diverse andere bekannte Wissenschaftler*innen gehörten (vgl. Kwiecinski 1973: 217), ist dies vor allem in der Enteignung, Deportation und Ermordung von Teilen der Familie in der Zeit des Nationalsozialismus begründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg verblieb keine Spur der Familie in Hannover, sodass eine Biografie Berliners 1973 noch vermerkt: »In Hannover there is nothing to commemorate him - no street, no monument, no house, no school bears his name« (ebd.: 213). Erst als die neue Synagoge – 25 Jahre nach der Zerstörung der ursprünglichen Synagoge durch die Nationalsozialisten – eingeweiht wurde, fand man ein Dokument, in dem die Familie Berliner neben anderen berühmten jüdischen Familien der Stadt aufgeführt war (vgl. ebd.). Damit kehrte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam die Bedeutung der Berliners in das kollektive Gedächtnis zurück. Ihr ehemaliges Presswerk in Langenhangen blieb über die Schallplatte hinaus der vielleicht bedeutendste Ort der deutschen Musikgeschichte. Die Verdienste Berliners und der Deutschen Grammophon wurden von der UNESCO (2014) mit dem Titel Unesco City of Music als die Stadt der Tonträger geehrt.

Abb. 2 a-b: Günter Boas bei einem Auftritt und mit Kundinnen im Geschäft ›Die Schallplatte‹.
Foto: Lippmann+Rau-Musikarchiv, Sammlung Boas

E​s ist diese personalisierte Anbindung der Jazz-Abteilung an einen Musiker und Szeneakteur sowie die Hinwendung zur Schallplatte als Hauptverkaufsobjekt, die den Wandel in der Mentalität der jungen Jazz- und Blues-Szene spiegelt. Boas’ Expertise, die auch aus der intensiven Korrespondenz und dem Plattenaustausch mit anderen Ländern stammt, fand hier eine direkte Anwendungspraxis. Allgemein zeigen diverse Fotografien der Zeit ein Bild von Schallplattenläden als Orte, an denen sich – anders als auf den Fotos des Dortmunder Clubs – interessanterweise nicht vorrangig nur junge Männer versammelten. Ein Foto aus der Boas-Sammlung zeigt ihn mit drei jungen Frauen im Laden mit einem Eis und scherzend (Abb. 2 b).     

Die Ära der Jazz-Titel im Plattenladen ›Die Schallplatte‹ ging bereits zu Beginn der 1960er-Jahre jedoch wieder zu Ende. Was blieb, war die Bedeutung von Boas für Dortmund als Jazz-Standort. Gemeinsam mit dem bis heute existierenden Musikhaus Schlüter, das Instrumente und einen ebenfalls durchkonzipierten modernen Verkaufsraum für Schallplatten anbot (vgl. ebd.), stellte ›Die Schallplatte‹ das Zentrum einer jungen Tonträgerszene in einer Stadt dar, die sich selbstbewusst als »die neue Metropole des Jazz« sah (vgl. Düdder zit. in ebd.: 63).

DAS DOSSIER WURDE VERFASST VON LAURA NIEBLING.

Einzelnachweise

[1] Damit könnte der später bekannte deutsch-amerikanische Surrealist Jimmy Ernst gemeint sein, der zu dieser Zeit aus Deutschland nach New York geflohen war und dort in den 1940er-Jahren als gelernter Schriftsetzer mit Gelegenheitsjobs sein Geld verdiente.


Quellen

Literatur:
Altendorfer, Otto (2004). Das Mediensystem der Bundesrepublik Deutschland. Band 2. Wiesbaden: VS Verlag. 
Berliner, Emile (1887). Verfahren und Apparat für das Registriren und Wiederhervorbringen von Tönen. [Patentschrift] 45048 (08.11.1887). 
Boas, Günter (1950). Classic Blues Singer. In: Hot Club Frankfurt, 42, 02.10.1950. 
Clarke, Nell Ray (1926). He Caught the World by the Ear. In: Popular Science, 19.08.1926, S. 31 und 114. 
Cushing, Steve (2014). Pioneers of the Blues Revival. Urbana: University of Illinois Press. 
Düdder, Rolf (1955/2004). Die neue Metropole des Jazz. In: Uta C. Schmidt, Andreas Müller und Richard Ortmann (Hg.), Jazz in Dortmund. Hot – Modern – Free – New. Essen: Klartext Verlag, S. 63. 
Fetthauer, Sophie (2000). Deutsche Grammophon. Geschichte eines Plattenunternehmens im »Dritten Reich«. Hamburg: von Bockel. 
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Heidkamp, Konrad (2007). There Is a House in Eisenach. In: Die Zeit, 30.08.2007, Nr. 36 |https://zeit.de/2007/36/Blues-Eisenach> [14.03.2023].. 
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Hull, Geoffrey P. (2004). The Recording Industry. 2. Auflage. New York: Routledge. 
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Kwiecinski, Walter (1973). The Berliner Family. In: Talking Machine Review, 23/1973, S. 213–218. 
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Mühl-Benninghaus, Wolfgang (2004). Krise in der Musikindustrie oder Krise des Musikmanagements? In: Mike Friedrichsen und Michael Schenk (Hg.), Globale Krise der Medienwirtschaft?  Baden-Baden: Nomos, S. 139173. 
Pfadenhauer, Michaela (2010). Artefakt-Gemeinschaften?! Technikverwendung und -entwicklung in Aneignungskulturen. In: Anne Honer, Michael Meuser und Michaela Pfadenhauer (Hg.), Fragile Sozialität. Inzenierungen, Sinnwelten und Existenzbastler. Wiesbaden: VS Verlag, S. 355371. 
Rauhut, Michael (2008). Lass es bluten. Blues-Diskurse in West und Ost. In: Michael Rauhut und Reinhard Lorenz (Hg.), Ich hab‘ den Blues schon etwas länger. Spuren einer Musik in Deutschland. Berlin: Links Verlag, S. 108122. 
Rauhut, Michael (2013). Undercover Agents for the Blues. Woher wissen wir, was die blauen Töne wert sind. In: Michael Fischer und Fernand Hörner (Hg.), Deutsch-französische Musiktransfers/German-French Musical Transfers. Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs Freiburg, 57/2012. Münster: Waxmann, S. 312346. 
Rauhut, Michael (2016). Ein Klang  zwei Welten. Blues im geteilten Deutschland, 19451990. Bielefeld: transcript. 
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Schwörer, Werner (1989). Jazzszene Frankfurt – Eine musiksoziologische Untersuchung zur Situation anfangs der achtziger Jahre. Mainz: Schott.
Tasch, Dieter (1987). Die »Grammophon« in Hannover. In: Jürgen Becker (Hg.), 100 Jahre Schallplatte – Von Hannover in die Welt. Beiträge und Katalog zur Ausstellung vom 29. September 1987 bis 10. Januar 1988 im Historischen Museum am Hohen Ufer. Hamburg: Polygram Deutschland, S. 41–74. 
Titon, Jeff Todd (1993). Reconstructing the Blues. Reflections on the 1960s Blues Revival. In: Neil Rosenberg (Hg.), Transforming Tradition. Folk Music Revivals Examined. Chicago: University of Illinois Press, S. 220240. 
Tschmuck, Peter (2003). Kreativität und Innovation in der Musikindustrie. Innsbruck: Studienverlag. 
UNESCO (2014). Hannover. ‹https://en.unesco.org/creative-cities/hannover› [10.12.2020].


Abbildungen

Abb. 1 a-e: ​Eine der beschädigten und reparierten Schallplatten und das Cover des Pappbuchs des Albums St. Louis Blues. Zweite Sliderseite: Innenansicht des Pappbuchs zu St. Louis Blues: Pappdeckel mit Texten und Bildern (Filmausschnitte) und eingefasste Schutzhüllen für die Schellackschallplatten. BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur, 2019
Abb. 2 a-b: Günter Boas bei einem Auftritt und mit Kundinnen im Geschäft ›Die Schallplatte‹. Lippmann+Rau-Musikarchiv, Sammlung Boas.
Abb. 3: ​Werbeanzeige für den Schallplattenladen ›Die Schallplatte‹ in Dortmund. Werbung Die Schallplatte, in: Jazzpodium 12/1960.
Abb. 4: ​Günter Boas beim Öffnen von Musiksendungen und beim Musikhören in seiner Frankfurter Wohnung. Lippmann+Rau-Musikarchiv, Sammlung Boas.