Foto: Brigitte Angerhausen
Brigitte Angerhausen wird am
2.07.1966 in Krefeld geboren. Sie wächst in einem musikalischen Haushalt auf,
früh winkt eine Karriere als Klaviervirtuosin. Doch ihre Ausbildung führt sie
nicht vor, sondern hinter das Mikrofon. In den USA lernt sie Mitte bis Ende der
1980er-Jahre von der Pike auf das Handwerk der Tonaufnahme. Obwohl Sie als Frau
im Berufsleben mit den ein oder anderen (finanziell spürbaren) Vorurteilen zu
kämpfen hat, macht sich Angerhausen einen Namen als Musikproduzentin in
verschiedenen Bereichen, arbeitet in der populären Musik, wie auch in der
Klassik und im Radio. Eine besondere Beziehung baut sie dabei zur
Alternative-Szene in Russland auf. Erst relativ spät erfüllt sie sich den Traum
eigener Musikaufnahmen – auch wen sie sich eingestehen muss, dass sie gerade
bei dieser Gelegenheit die sonst gewohnte Kontrolle über den Klang abgegeben
muss.
Das Interview ist in drei Abschnitte geteilt. Sie können es mithilfe der Buttons entweder chronologisch oder thematisch lesen.
Schon als Kind kommt Brigitte Angerhausen in Kontakt mit Klangtechnologie wie Mikrofon, Tonband und Musikanlage. Der »Schneewittchensarg« der Firma Braun wird nach dem Kauf einer neuen Hi-Fi-Anlage von den Eltern geerbt. Früh entstehen damit eigene Mixtapes auf Tonband. Dafür werden die Radiosendungen mit der »heißesten« Popmusik rot im Kalender angestrichen. Den Grundstein für die spätere Ausbildung legen ein Talent für Technik und Mathematik sowie ein Interesse für die Wandelbarkeit des Klanges. Eine weitere Quelle bildete die Ausbildung am klassischen Klavier. Hier war es allerdings das Lampenfieber, das diesen Traum früh entgegenstand, auch wenn Angerhausen einige Jugend-Musiziert-Wettbewerbe für sich entscheiden konnte. Das Interesse für die Vorgänge hinter dem Mikrofon indes wurde von unerwarteter Seite angestoßen:
Abb. 1: Der Braun SK 4, auch genannt »Schneewittchensarg«.
Foto: Klaus Polkowski
Die Produzentin in Spe macht ihr Abitur 1985. Früh entscheidet sie sich, dass sie die Ausbildung in diesem Bereich nicht in Westdeutschland absolvieren will. Durch Zufall entdeckt sie in einem Fachjournal während eines USA-Aufenthalts die Werbung für einen Studiengang in Chicago, der genau ihren Vorstellungen entspricht. Einer von vielen Zufällen, von »schwarzen Schwänen«, wie sie es im Interview nennt, der ihr berufliches Leben prägen und dessen Verlauf bestimmen wird. Ein wichtiger Bestandteil des zweijährigen Kurses war die Arbeit mit der Akustik von Räumen:
Der Unterricht […] basierte darauf, dass wir in, ich glaube, es waren insgesamt zehn verschiedene Regien und zehn verschiedene Studios, in denen wir mit demselben Gitarristen und derselben Gitarre und demselben Sprecher und demselben Mikrofon […] eine Aufnahme gemacht haben, die wir dann in denselben Regien überall abgehört und ausgewertet haben […]. Akustikmessungen mit pink noise in Studio und Regie, ganz systematisch, […] seit diesen Kurs, achtete ich fortan ganz anders auf die Raumakustik; was ist hier an den Wänden, wie hoch ist die Decke, habe ich parallele Wände, welche Materialien sind hier verbaut, was ist das für ein Fußboden, etc. […]?
Die
Besonderheit der Ausbildung in den USA bestand darin, dass das Lehrpersonal zu
100% aus Profis mit »Felderfahrung« bestand (alle Professoren waren aus der
professionellem Audio/Studioindustrie, der Akustikbauer mit eigener Firma hat
Akustik unterrichtet, der Beschaller live Sound usw…, unterrichten war immer »nur« Nebenberuf) – für
Angerhausen bis heute ein wesentlicher Unterschied zur Tonmeisterausbildung in
Deutschland. Ein besonderer Teil des Kurses fand im Heimstudio eines
Produzenten statt. Es ging dabei um die Schärfung des Gehörs und die
Entwicklung der Aufnahmetechnik der letzten Jahrzehnte:
Von der Studiolandschaft in den USA kommend sieht sich Angerhausen zu Beginn der 1990er-Jahre zunächst nicht im verschlafenen Deutschland arbeiten. Sie siedelt mit ihrem damaligen Lebenspartner nach Spanien über, wo sie in einem kommerziellen Studio unterkommt. Doch hier merkt sie schnell, dass sie trotz ihres Könnens nicht als gleichwertig angesehen wird. Das macht sich vor allem finanziell bemerkbar.
[…] ich hatte allerdings keine Ahnung, wie hoch das Gehaltsniveau in Spanien ist. […] Naja, lange Rede, kurzer Sinn. So ein paar Monate später habe ich von meinen Kollegen erfahren, was sie so verdienen und das war tatsächlich das Vierfache von dem, was ich verdient hatte …und jetzt muss man dazu sagen, dass keiner meiner Kollegen auch nur irgendein Manual auf Englisch lesen konnte. […] das Studio war sehr international aufgestellt. Es kam die Crème de la Crème der internationalen Werbebranche […], Spanien war damals ein wichtiger Produktionsstandort, weil kostengünstiger als der Rest von Europa…und das hat natürlich alles die Brigitte gemacht, weil ich eben über die entsprechenden Sprachkenntnisse verfügt habe, englisch, deutsch, französisch und spanisch…das hat dann wiederum dazu geführt, dass meine Kollegen mit meinem Chef gesprochen haben. […] Ich wurde zum Gespräch gebeten, das werde ich nie vergessen…er hat mir richtig ins Gesicht gelacht und meinte: […] du bist 26, du bist nicht verheiratet, was willst du mit dem Geld? Und dann habe ich gesagt: Es geht doch weder um mein Alter, noch um meinen Status verheiratet oder ledig, sondern es geht um die Arbeit, die ich mache, und wie ich sie mache, eben auch im Vergleich zu meinen männlichen Kollegen… dafür werde ich bezahlt, und dafür möchte ich auch angemessen bezahlt werden. Und ich bin als ›Junginenieurin‹ bereit, mit einem mit einem Gehalt zurecht zu kommen, das unter dem meiner Seniorkollegen, die schon 20 Jahre in dem Beruf arbeiten, aber wenn ich mir angucke, was ich hier so mache […] und wie groß dieser Gap ist […], finde ich das höchst unangemessen und er hat dann gesagt: Ja er guckt mal, was er da machen kann… und das Angebot war dann tatsächlich lächerlich, was dann dazu geführt hat, dass ich nach Deutschland zurückgegangen bin. Auch so ein ›schwarzer Schwan‹, Gerd Jüngling von ADT bot mir einen Posten in einem Studio in Köln auf freiberuflicher Basis an, da bin ich dann einfach wieder ins kalte Wasser gesprungen.
Abb. 2: Brigitte Angerhausen am Flügel.
Foto: Brigitte Angerhausen
Doch auch in Deutschland gestaltete sich die Arbeit auf diesem Feld nicht einfach. Angerhausen betont, dass auf einem hochkompetitiven Feld wie der Musikproduktion schon die Grundvoraussetzungen für Selbstständige schwierig seien und sich das bei Frauen noch einmal potenziere. Sie bestätigt die Vermutung, dass Frauen in diesem Feld im technischen Wissen und der Ausführung »nochmal dieses Stückchen besser und schneller sein müssen, um zu beeindrucken, um wirklich ihren Fuß in die Tür zu kriegen«. Mittlerweile seien ihre Qualitäten bekannt:
Und spätestens, als ich dann in Verlegenheit gekommen bin, als Musikerin auch mal aufgenommen zu werden von meinen Kollegen, kann ich heute von mir behaupten, dass ich einfach verdammt schnell bin und gut in dem, was ich mache, weil ich jetzt ganz konkrete Vergleichsmöglichkeiten hatte, und auch durch die Arbeit beim Westdeutschen Rundfunk bekomme ich auch mehr mit, wie andere Kollegen arbeiten.
Zum Unterschied der Arbeit von Männern und Frauen hat Angerhausen ihre ganz eigene Theorie. Denn Sie beneidet einige ihrer Kollegen um eine bestimmte Qualität ihrer Herangehensweise. Während sie strukturiert an eine Aufnahme herangehe, habe sie bei vielen Männern eine gewisse »Verspieltheit« im Umgang mit Technik beobachtet.
Also ich habe tatsächlich diese Klangvorstellung und arbeite ganz konkret [darauf] hin. Mit diesem Endklang im Ohr. Mir kann es natürlich auch passieren, dass ich dann über irgendwas stolpere, was ich überraschend finde oder besser, als das, was ich mir ursprünglich vorgestellt hatte, aber ich habe auch ganz oft beobachtet, vor allen Dingen in meiner Zeit in den USA, da gab es eben sehr stark dieses Modell des Ingenieurs und des Assistants, Tape OP´s (Anmerkung: Tape Operators) und ich hatte auch so ein paar Praktika und so konnte eben schauen, wie andere arbeiten, wie die Männer arbeiten und das war […] sehr viel spielerischer Umgang, einfach mal schauen, was passiert, wenn ich hier drauf drücke, was würde passieren, wenn ich hier den Parameter verstelle und sich darin auch komplett verlieren, sich treiben lassen, das passiert mir so weniger. Und da […] schiele ich mit einem fast neidischen Auge drauf, dass mir das etwas abgeht, da so einfach mal zum Spaß rumzuprobieren.
Als Musikproduzentin hat Brigitte Angerhausen einen besonderen Zugang zum Klang entwickelt und auch verschiedene Technologien kennen gelernt, auf diesen zuzugreifen, ihn zu speichern und zu bearbeiten. Sie verfällt dabei keiner einfachen Dichotomie zwischen Analog und Digital, betont aber, dass sie als jemand, die in beiden Welten zuhause sei, doch Unterschiede hinsichtlich der Klangqualität und vor allem den damit verbunden (Entscheidungs-)Prozessen und der Magie bestimmter Momente während der Aufnahme bemerkt habe.
[…] ich [bin] wahnsinnig dankbar, dass ich diesen Segen der analogen Technologie noch kennen gelernt habe, wo man irgendwie einen sechsstimmigen Chor in doppelter Ausführung […] einfach auf Stereo runtermischen musste, um irgendwo noch die Keyboards aufnehmen zu können, wenn man gar nicht genug Spuren hatte. Also man muss Entscheidungen treffen und in diesem Entscheidungsprozess gestaltet man einfach auch immer mit dem Blick auf das Endergebnis. […] man […] brauchte auch da unbedingt diese Fähigkeit, sich vorzustellen, wie soll das alles hinterher klingen und das finde ich einfach wahnsinnig hilfreich und das fehlt mir heutzutage oft. Da werden dann irgendwie 120 Spuren Leadgesang aufgenommen, aus denen dann hinterher wortweise die End-Leadstimme zusammengeschnipselt wird. Und ich kann mich erinnern an eine Spur, wo wir den Leadgesang aufgenommen haben und da reingedroppt haben auf der Bandmaschine. Da musste man auch mit einem schnellen Finger schnell reagieren, damit man […] den Anatmer nicht abschneidet und so. Und schnell genug wieder rausdropt, wenn man was korrigieren möchte […] es war letztendlich mit einem schnellen Finger auf die Aufnahmetaste und wieder raus und da waren Sachen machbar und Sachen eben auch nicht mehr machbar und das hat schon auch, fand ich, dazu geführt, dass so eine, so eine Magie im Studio entsteht […] hier passiert gerade was, hier entsteht gerade etwas Spannendes, weil das auch nur jetzt entstehen kann und nicht hinterher irgendwo zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht dann so zusammen geschnitten werden könnte, sondern es ist hier und jetzt der Moment, wo das passiert […]. Ja, das vermisse ich tatsächlich heute in der digitalen Produktion, so sehr ich die auch zu schätzen weiß und benutze, aber ich sage mal, diese besondere Atmosphäre, das Rotlicht ist an und alle haben irgendwie ihren Kopf in die Musik […] eingetaucht, die ist irgendwie abhanden gekommen.
Zentral ist Angerhausen der direkte Zugriff auf das Klanggeschehen, der über haptische Interfaces bzw. das analoge Pult möglich sei, wie sie auch in ihrem Homestudio zum Einsatz kommen (Bild 3). Gerade der Zugriff auf die einzelnen Kanäle und die »Unmittelbarkeit« der Equalizer und Effektsektionen stellt sie hier als großen Vorteil heraus.
Ich mag eben diesen direkten Zugriff und Zugänglichkeit auf alles in Sekundenschnelle und diese Unmittelbarkeit, also ich drehe an AUX 4 und weiß, da habe ich mein Delay und jetzt will ich hier noch ein bisschen Delay auf den Backing-Vocals und das höre ich dann auch [..] und kann sofort entscheiden, ah, das ist dieses Fünkchen zu viel und kann wieder zurückdrehen. Und dafür jetzt ein bisschen weniger Hall und zack, jetzt passt´s. Also diese Unmittelbarkeit finde ich großartig und das […] kann eine Software, wo ich da irgendwie Scrollen muss, […] jede Bewegung, die ich mache, jede Veränderung, die ich klanglich mache, ist die Vorbereitung für die nächste klangliche Veränderung, die dann hier weiterführt und da finde ich eben analoge Mischpulte mit ihrer Übersichtlichkeit in der Komplexität, dann auch ihrer Direktheit immer noch unschlagbar, was den kreativen Arbeitsfluss bei mir schneller anregt. Und wenn ich dann […] noch so eine Ergonomie habe an diesem Mischplatz mit Outboard-Equipment, was in meiner Nähe mit großen Knöpfen aufwartet, wo ich dann mal eben schnell nach links oder rechts greife und […] das räumlich auch irgendwo im Körpergeistsystem abspeichere […].
Abb. 3: Angerhausens Mischpult in ihrem Homestudio. Dazu die goldene Schallplatte von BAPs aff un zo, an der sie mitgearbeitet hat.
Foto: Brigitte Angerhausen
Doch auch das Analoge ist nicht ohne Tücken. Gerade in Zeiten einer immer kleiner werdenden Anzahl an Personen, welche Outboard-Equipment und Mischpult warten können, bietet das Rechnerbasierte eine gewisse Stabilität und auch bei sich hat die Musikproduzentin beobachtet, dass einiges, was früher im Studio als Hardware stand, nun als Plugin und damit als Software eingebunden ist. Doch Angerhausen kommt immer wieder auch auf die prozessualen Nachteile zurück, vor allem beim Übergang vom Hören zum Sehen, der sich mit der DAW (Digital Audio Workstation) verbreitet habe:
[…] auf einmal funktioniert irgendwas nicht [und] man wird […] schneller weggezogen von dem eigentlichen Ausgangspunkt. […]. Ich beobachte teilweise an mir selbst, aber auch an anderen, dass man sich dann so an operativen Dingen aufhält und sich da verliert und gar nicht mehr richtig zuhören kann, weil man mit der Maus und dem Bildschirm so beschäftigt ist in dem, was man sieht, das ist auch noch ein Riesenvorteil. Ich habe auf Bandmaschine Stereo, Viertelzoll gelernt zu schneiden. Ich beobachte eben auch, dass viel geschnitten wird und gar nicht mehr gehört wird, ob der Schnitt funktioniert, also auch ob er nicht nur technisch funktioniert, eine Lücke drin ist oder ein Fehler, sondern auch ob das musikalisch […] funktioniert. Ob das, was ich da zusammenschneide überhaupt noch einen irgendwie sinngebenden, ich sage mal musikalischen Fluss ergibt. […]
Ein eigenes Studio, das über ein Heimstudio hinausging hatte Angerhausen selten zur Verfügung. Eher mietete sie sich professionelle Arbeitsräume wie das Studio des Scorpionsproduzenten Dieter Dierks oder nutzte ihr eigenes mobiles Equipment, das über die Jahre zusammenstellte.
[I]ch [habe] mir eine Lunchbox gekauft mit Einschüben, so wurde ich dann irgendwo der mobile freiberufliche Toningenieur, der mit seinem Equipment entweder zu den Musikern und ihrer Produktionsstätten nach Hause gereist ist, [da ] habe ich dann so ein kleines eigenes mobiles Equipment aufgebaut, das habe ich auch einige Jahre mobil betrieben und irgendwann habe ich mir dann so ein Setup zusammengebaut im Zusammenhang mit dem Mischpult und eben einer Workstation[…] Und ich kann an das 12-Kanal-Pult noch ein weiteres 24-Kanal-Pult anschließen, ich subsumiere so einiges in der Workstation und führe das dann analog raus und habe dann eben noch analoge externe Bearbeitung in Form von Röhrenkompression oder externer Filter und alles läuft in die analoge die Endsumme und die dann wieder zurück in die Workstation.
Ihre Arbeit wurde dabei nicht nur in Spanien und Deutschland geschätzt, wo sie in fast allen Genres und Sparten, von Neuer Musik bis zu Hörspielen aufnahm. Über einen Auftrag in besagtem Studio von Dieter Dierks bekam Sie Anfang der 1990er-Jahre Kontakt in die Rockmusikszene der russischen Föderation. Die dortigen Musiker*innen waren von ihrer Arbeit so begeistert, dass sich das deutsche Talent unter befreundeten Gruppen schnell herumsprach. Sie produzierte und mischte Alben für bekannte Musiker wie Oleg Nisterov und Mischa Gabolaev von Megapolis, Masha und die Bären, Nike Borusov, Alexander Alexandrowitsch Barykin, die Sängerin Masha Makarova oder die Indierockgruppen Nogu Svelo und Svintsovyi Tuman. Die Bedingungen in den ersten Jahren nach der Sowjetunion gestalteten sich allerdings recht gewöhnungsbedürftig:
War super und das hat dazu geführt, dass der Schlagzeuger mich dann wenig später nach Moskau eingeladen hat. Und ich dann eben in Moskau gefragt wurde da, auch für eine andere Band aufzunehmen und zu mischen. Das war sehr abenteuerlich, die erste Produktion, die ich gemacht habe, war in so einem alten Bunker, ich muss jetzt grad malüberlegen, wann das war, 93, 94 sowas um den Dreh rum, also noch Perestroika-Zeit. Und dann saß da immer so ein Polizist vor dem Studioeingang, man musste auch seinen Pass abgeben und es war arschkalt, also ich habe mit Handschuhen, Schal, Mütze am Mischpult gesessen […] die Russen haben schon auch eine sehr spezielle Vorstellung von Rock Und Popmusik, tolle Geschichten erzählt, Wahnsinnstexte, unglaubliche Aussagen wurden da getroffen, aber so der Sound war irgendwie sehr eckig und auch der Groove war eher militärisch und nie so rockig in dem vollen Sinne, also mit allem, was man da versucht hat, da hinzukommen, es fehlte auch einfach an der gemeinsam gelebten und erlebten Musikgeschichte, Konzerte und so weiter. Lange Rede, kurzer Sinn. Das hat sich dann irgendwie relativ schnell rumgesprochen, dass da jemand ist, der aufnimmt und mischt, und dann war ich gefragt worden noch in der Zeit, wo ich vor Ort war, ob ich in dem Studio der ehemaligen […] Filmstudios Mosfilm Studios, das ist quasi der Bavaria Filmstudiokomplex von Russland gewesen, in Moskau und da habe ich in einem wirklich tollen ausgestatteten Popstudio an einem SSL-Pult […] aufgenommen.
Die Kontakte bestehen dabei teilweise bis heute, zuletzt 2020 entstand – coronabedingt aus der Ferne - ein Album für Megapolis, eine Band, mit der Angerhausen eine besondere Arbeitsbeziehung verbindet:
Da klickt es einfach in der Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren können über Musik und beyond. Also was über die Musik in dem, was klingt, hinaus in der Musik passieren kann, wenn es eben auf eine bestimmte Art und Weise zusammengesetzt und aufgenommen und gemischt wird und da haben wir eine Kommunikations- und Vertrauensebene entwickelt, die, ja, die ich nur selten erlebt habe. […]
Doch wie nimmt Angerhausen überhaupt die verschiedenen Rollenbilder im Studio wahr? Zunächst beruft sie sich da auf ihre Ausbildung in den USA und eine eher klassische Aufteilung bzw. »Kernzuständigkeiten«: Zuständig für das »musikalisch-inhaltliche« zeichne sich die/der Musikproduzent*in, das Technische betreut die/der Toningenieur*in und die technischen Assistenten, im Studiojargon Tea girl/boy kümmern sich um das, was sonst noch anfällt und natürlich die Band bzw. die Künstler:in, die vor dem Mikrophon stehen. Allerdings betont Angerhausen auch die Möglichkeit, dass in Diskussionen, die über diese Hauptaufgaben hinausgehen, viel kreatives Potential liege. Den darin zum Ausdruck kommenden Teamgedanken betont die Produzentin auch bei anderen Gelegenheiten im Interview:
Dass der Produzent gesagt hat: Mach das doch mal mit der akustischen Gitarre, das ist vielleicht dem Song dienlicher als mit der E-Gitarre und auch […] dass der Ingenieur sagt: Wenn ihr mich fragt, der Take vorher war einfach deutlich besser, […] da komme ich jetzt wieder so ein bisschen auf das zu sprechen: Teamgedanke. Alle verschreiben sich der Musik oder dem besten für die Sache und dass der Mehrwert, der entsteht, wenn es ein gutes Team ist, wenn verschiedene Köpfe, die unterschiedlich ticken und verschiedene Wahrnehmungen aufeinander treffen, die aber alle gleichermaßen daran interessiert sind, das Beste für die Sache rauszuholen, ein sehr viel höherer Mehrwert im Endergebnis entstehen kann […] Auch negativ, klar, ich habe schon schwierige Situation erlebt, wo die Türen fliegen, aber […] ich habe das in den meisten Fällen so erlebt, dass auch aus dem kritischen Diskurs, aus der Uneinigkeit heraus, wenn man im besten für die Sache unterwegs ist, eben dann etwas entsteht, was so weder in dem einen, noch in dem anderen Kopf gegeben hätte. Das sind so Prozesse im Studio hinter verschlossenen Türen, die ich jetzt zum Bespiel mit der Band Megapolis […] öfter erlebt habe, dass wir uns in gewissen Punkten überhaupt nicht einig waren, aber aus der Diskussion darüber, wie machen wir das denn jetzt, dann das eigentlich Wichtige für die Produktion aus diesem Dialog entstanden ist. Und wenn man eben alleine da hängt, dann gibt es das nicht. Dann gibt es diesen Dialog mit einem Sparring-Partner nicht und dann kann man sich auch ganz schön festfahren. […]
Das ist es auch, was Angerhausen am eigenen Leib erlebt hat, als sie sich 2010 daran machte, selber vor dem Mikrophon Platz zu nehmen und ihre eigene Musik aufzunehmen. Schnell merkte sie, dass sie sich dort in einer gewissen Zwickmühle befand, da Sie jeweils »in andere Zustände« gerate und engagierte einen befreundeten Produzenten, die Arbeit zu übernehmen, die sie sonst verrichtete:
Das Studio stellt für Angerhausen einen ganz besonderen Ort dar. Dabei geht es nicht nur – wie eingangs erwähnt – um das rein technisch-akustische Setup, sondern auch um die Atmosphäre, um Lichtverhältnisse, Design, verwendete Materialien und die im Studio befindlichen Instrumente. All das setzt nicht nur eine gewisse Stimmung, auch die Arbeitsergebnisse und der kreative Prozess können davon beeinflusst sein:
Räume, wo man nicht dimmen kann, wo ein sehr kaltes LED-Licht herrscht, da komme ich auch auf andere Gedanken und auch auf andere klangliche Endergebnisse. Und ich finde ja Design/Look in Verbindung mit Funktionalität, also form follows function, sehr wichtig. Also irgendwelche, ich sage mal lustigen Designideen, die irgendwie jeglicher funktionalen Logik entbehren, da kann ich sehr gut drauf verzichten. […] Wenn das genial zu Ende gedacht ist, finde ich das großartig. Also es kickt mich dann auch, so ein schönes Gerät anzugucken, was einfach sehr elegant designed ist, das ist schon auch eine Form von Inspirationsquelle, wenn das stimmig ist und natürlich auch ein gewisses Maß an Struktur und Ordnung, was, wenn eine Produktion voranschreitet, nicht immer durchzuhalten ist […] ich muss da sofort an Connys Studio, Conny Planks Studio denken, dieses Studio war so sensationell, das war eine Stöberecke, weil überall etwas herumlag, hier eine Snare, da noch ein Verstärker, eine Hammond, irgendwie ein […] altes Keyboard auftaucht aus irgendeiner Ecke und alle diese Gerätschaften haben eine Geschichte gehabt und die war ihnen auch anzusehen und die haben auch atmosphärisch etwas beigetragen, man kam in dieses Studio rein und wollte gar nicht mehr unbedingt raus, sondern sich da gerne weiter aufhalten und immer tiefer einsaugen lassen und entweder auf Entdeckungstour gehen in den Räumlichkeiten oder bei sich selbst um zu schauen, was macht das jetzt mit mir, was kommt dabei raus.
Angerhausen erinnert sich – angesprochen auf eine goldene Schallplatte des BAP-Albums Aff Un Zo lebhaft an die kreative Atmosphäre in dem Studio auf Mallorca Anfang der 2000er-Jahre. Im Interview formuliert sie dazu einen weiteren Vorteil des »klassischen« des Studios: Die Möglichkeit, die Welt auszusperren und in einen »Studiolockdown« zu gehen, wie es die Produzentin nennt. Dadurch entständen eine ganz besondere Konzentration und Arbeitsstimmung, nicht zuletzt durch die geschlossene Türe, in der die Musik erstmal nur für bestimmte Ohren gedacht sei. Sie gibt zu, dass dies in Zeiten kleinerer Budgets und der Verbreitung von Homestudios zu einer eher historischen Erfahrung geworden ist:
Ihre Abschlussarbeit schrieb Angerhausen während ihrer Ausbildung über verschiedene Studiokulturen bzw. Produktionsphilosophien »hüben und drüben«. Diese Fragen haben sie jedoch auch darüber hinaus immer wieder beschäftigt. Sie teilt die jeweiligen Expertisen vorsichtig ein. Die US-amerikanischen Produzenten mit ihrem pragmatischen und doch experimentellen Vorgehen seien für Pop- und Rockproduktionen prädestiniert, während die kontinentale Tradition wie der deutsche Tonmeister für das klassische Metier Standards gesetzt habe:
Durch wie gesagt deutsche Grammofon und so, aber ich denke mal, im Ursprung ist da die Klanggestaltung schon auch von den öffentlich-rechtlichen Sendern ausgegangen und eine gewisse Ästhetik. Die hat sich auch über die Jahre nochmal verändert. Von räumlich zu hier etwas trockener und dichter und mehr gestützt und im Moment, würde ich sagen, ist die Klangästhetik da eher Richtung natürlichem Klang.
Aber auch in anderer Hinsicht unterscheiden sich die verschiedenen Länder:
Was ich aber eben mit meinem Blick auf auch heute sagen würde, wenn ich meine Kollegen anschaue, die in Deutschland studiert haben und dann auch hier ihr Hauptwirkungsfeld haben, stützt man sich tatsächlich auf sehr sehr fundierte Fachkenntnis, also Messtabellen, Beipackzettel Kompressor [...], wie es im Manual beschrieben und empfohlen [ist].
In den USA hingegen ginge es vor allem um das Probieren, z. B. in Bezug auf den Kompressor:
sondern weil sie eben genau das nicht tun und genau gucken, was kann denn das noch oder was passiert, wenn ich hier mal so dran drehe und irgendwie die Ratio auf Anschlag und den Threshold auf Anschlag und da einfach voll alles, macht eigentlich zu und dann gucke ich, was passiert und ah, das könnte hier für so und so eine Anwendung total interessant sein. Und dieser Geist, dieser Freigeist, der da auch drinsteckt, weil man eben sich gar nicht mit dem Ballast der theoretischen Kenntnisse allzu sehr beschäftigt, sondern einfach frisch, frei ausprobiert, finde ich, kommen auch immer noch sehr viele klanglich interessante Entwicklungen in der Musikproduktion aus den USA. […] da wird jedes Mal neu geschaut, was habe ich jetzt hier und auch mal wieder neu ausprobiert.
Aber auch technisch hat Angerhausen Unterschiede festgestellt. So hätten Studios in Ländern wie Deutschland und Frankreich sehr früh neue und digitale Aufnahmetechnologie adaptiert, während viel analoges Equipment, das einst in Deutschland bzw. Europa seinen Ursprung fand, in die USA »ausgewandert« sei. Dort seien so Studios entstanden, die es hier so nicht mehr gäbe. Zuletzt philosophiert Angerhausen noch über ihre Profession und den Prozess der Aufnahme in Relation zum Geräusch, zur Musik, wie sie ohne technische Vermittlung klingt. Selbst mit analoger Technik, die im Ohr der Produzentin nur durch die sogenannten »High-Res«-Aufnahmen des Digitalen Konkurrenz bekommt, würde immer etwas verloren gehen. Das führt sie nicht nur auf den Frequenzgang, auf den Prozess der Wandlung zurück, sondern auch auf die Sinneswahrnehmung des Menschen:
Also der Körper hört mit und eben nicht nur das Hirn und nicht nur das Ohr, sondern der Körper erfährt Musik beim Entstehen und ich glaube, das ist das, was Musik über die Jahrtausende so wichtig für den Menschen gemacht hat und es heute so wichtig bleibt oder so wichtig sein lässt und auch so universal sein lässt, dass es einfach Musik gibt, die überall funktioniert, auf der ganzen Welt, weil es den Menschen erreicht als Ganzes. Und trotzdem auch, ich will jetzt da die Musikprodukion nicht schmälern, natürlich gelingt das auch immer wieder, einen Großteil dessen technisch einzufangen, aber eben nicht diese 100 Prozent. Das muss man schon sagen, da fehlt immer irgendein bisschen, geht verloren durch die Übertragung, durch Mikrofone und Wandler.
DAS INTERVIEW WURDE GEFÜHRT VON ALAN VAN KEEKEN.
Abbildungen
Abb. 1: Der Braun SK 4, auch genannt »Schneewittchensarg«. Klaus Polkowski.
Abb. 2: Brigitte Angerhausen am Flügel. Brigitte Angerhausen.
Abb. 3: Angerhausens Mischpult in ihrem Homestudio. Dazu die goldene Schallplatte von BAPs aff un zo, an der sie mitgearbeitet hat. Brigitte Angerhausen.