Ingolf Haedicke
Musikwissenschaftler und früherer Leiter der Phonothek des Instituts für Musikwissenschaft/HU Berlin

Ingolf Haedicke in seiner Wohnung in Berlin Mitte, Dezember 2021.
Foto: Christina Dörfling

»Wenn es um Musik ging, gab es kein Tabu« – Ingolf Haedicke über das institutionalisierte Sammeln westlicher Pop- und Rockmusik in der DDR

Zur Person

Ingolf Haedicke wird am 3. August 1943 in Elbing (heute Elblag) als eines von drei Kindern in eine Lehrerfamilie geboren. Ein Jahr später geht die Familie nach Gera, wo der Vater wenig später an einer Blinddarmentzündung stirbt. Die Mutter zieht nach Schönebeck, die Kinder werden zunächst in ein katholisches Heim in Wernigerode geschickt, später kommt Ingolf Haedicke auf ein Internat in Calbe (Saale). Bereits mit fünf Jahren erhält er Klavierunterricht, kurzzeitig ist er Mitglied des Thomanerchors. Nach dem Abitur studiert er an der Humboldt-Universität Berlin Musikwissenschaft, wo er anschließend als Leiter der Phonothek und Dozent für Akustik bis zur Rente bleiben wird. Neben Rundfunksendungen, Schallplattenrezensionen, DDR-weiten Vorträgen über die Beatles und elektrotechnischen Basteleien legt er an der Universität ein Tonbandarchiv mit zeitgenössischer westlicher Rockmusik an. Dies ermöglicht den Studierenden des Instituts ab den 1970er-Jahren, Pop- und Rockmusik zu erforschen.

Das Interview ist in drei Abschnitte geteilt. Sie können es mithilfe der Buttons entweder chronologisch oder thematisch lesen.

Auf der einen Seite Musik, Musik, Musik, bis zum geht nicht mehr und auf der anderen Seite gleichzeitig Basteln, Basteln, Basteln – in diesem Zweiklang bewegte sich mein Leben und das setzt sich bis heute fort. Bis heute, kann ich wirklich sagen, habe ich die Erfüllung meines Lebens gefunden: Beide Hobbies konnte ich während meiner Berufstätigkeit immer bedienen.

Bach, beatles und sitar

Kindheit zwischen Schrottplatz, Funkraum und Westradio

Musik und Technik spielt von frühen Kindertagen eine wichtige Rolle in Ingolf Haedickes Leben.

Ich hatte schon mit fünf Jahren den ersten Klavierunterricht und das war für mich die Entscheidung meines Lebens geworden. Es stellte sich bald heraus, dass ich von meinen zwei Geschwistern der Begabtere war und darum wurde ich von meiner Mutter auch in jeder Hinsicht gefördert. […] Was die musikalische Entwicklung anbelangt, war ich wirklich hochbegabt. Ich hatte, wie sich bald herausstellte, absolutes Gehör und nur folgerichtig ist meine Mutter mit mir nach Leipzig gefahren zur Thomasschule. Dort wurde ich auch von dem damaligen Thomaskantor Günther Ramin […] geprüft und sofort aufgenommen. Ich konnte nämlich das viergestrichene c singen, worüber ich heute noch staune. Heute kann ich überhaupt nicht mehr singen, aber damals konnte ich das. Ich kam zur Thomanerschule, blieb allerdings nur ein halbes Jahr, weil ich meiner Mutter immer flehentliche Briefe geschrieben habe, sie soll mich hier rausholen. Also für mich als kleiner Junge war das Internatsleben nichts. Bach war toll und damit bin ich auch mit Bachs Musik in Berührung gekommen, was für mich dann nachher das entscheidende Erlebnis auch war, rein musikalisch, aber ich hatte auch gleichzeitig technische Interessen. Von klein auf habe ich mit meinem Freund zusammen immer gebastelt. Ich entsinne mich noch genau, dass wir noch in der ersten oder zweiten Klasse schon Telefonleitungen gelegt haben, vom Vorderhaus zum Hinterhaus […]. Mein Spielplatz war der Schrottplatz. Der Schrottplatz war insofern ergiebig, weil kurz nach dem Krieg alle Häuser kaputt waren, alles landete auf dem Schrottplatz, dort konnte man wirklich noch wertvolle Sachen finden.

Abb. 1: Ingolf Haedicke (r.) musiziert mit seinen beiden Geschwistern.
Foto: Privatbesitz Ingolf Haedicke

So wundert es auch nicht, dass ihn in dem Internat in Calbe (Saale), das er ab seinem 14. Lebensjahr besucht, vor allem der Funkraum magisch anzieht.

Ich hatte das große Glück, dass im Internat ein sogenannter Funkraum war. Der bestand aus einer Sprechanlage, womit man im ganzen Internat Durchsagen machen konnte, aber dort gab es auch eine ziemlich große Schellackplattensammlung mit Händel-Sachen und das war mein Paradies gewesen. Also es fing schon früh an, dass ich mich dafür interessiert habe: Sowohl die Geräte bedienen und selbst auch versuchen zu reparieren, das ist ja klar, aber auch natürlich die Platten hören, die dort waren.

In dieser Zeit hat Ingolf Haedicke bereits eine ausgeprägte musikalische Präferenz entwickelt.

Es gab drei Musikrichtungen, die mich geprägt haben von klein auf. Das erste war natürlich Bach, logisch. Ich bin oft mit meiner Mutter nach Leipzig rübergefahren […] zu Motetten oder zur Kantatenaufführung. Das zweite, was mich musikalisch interessiert hatte schon von klein auf, war indische Musik. Der norddeutsche Rundfunk hatte immer einmal in der Woche eine Stunde indische Musik. Und ich weiß noch genau, jedes Mal bin ich aus dem Internat dann nach Hause gefahren, um diese eine kostbare Stunde indische Musik zu hören. Und das dritte was mich musikalisch interessiert hatte – und diese Mischung ist ja wirklich skurril, gebe ich ja zu – war Dixieland-Jazz.

Sein Vorliebe für Dixieland-Jazz führt sogar zu einem kleinen Eklat im Internat.

Dort gab es einen Clubraum mit einem riesengroßen Radioapparat mit Plattenspieler und Tonband, diese riesen Musiktruhen, die standen dort. Jeden Mittwoch machte der Sender Luxemburg eine Stunde lang Dixieland-Jazz […] und diese Sendung musste ich hören. Nun war es zu DDR-Zeiten nicht gerade erwünscht, schon gar nicht in Internaten, dass man dort den kapitalistischen Sender Radio Luxemburg hört. Es kam wie es kommen musste, meine Mutter wurde nach Calbe bestellt, große Sitzung mit dem Heimleiter und mit Lehrern: »Das geht nicht, der Junge darf hier nicht öffentlich Radio Luxemburg hören.“ Aber Sie wissen ja, wenn man etwas will, kennt man nichts. Ich habe da rumgetobt, geschrien: »Ich muss das hören!“ Da war ich nicht zu halten. Wenn es um Musik ging, gab es kein Tabu. Dann wurde ein salomonischer Schluss gemacht; ich durfte am Mittwoch in den Clubraum und Radio Luxemburg hören, aber ich musste mich einschließen, damit keine Öffentlichkeit hergestellt war durch eventuelle Mitschüler.

Nach dem Abitur liegt für Ingolf Haedicke auf der Hand, dass sein zukünftiges Studium etwas mit Musik zu tun haben muss. Seine Bewerbung auf ein Kompositionsstudium in Leipzig wird allerdings abgelehnt. Der Ersatzwunsch, Tonmeister, lässt sich auf Grund des Mauerbaus auch nicht realisieren, da der Ausbildungsturnus ausgedehnt wird und Haedicke trotz bestandenem Eignungstests drei Jahre warten müsste. Seine Mutter erfährt, dass es noch einen letzten Studienplatz für Musikwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin gibt und fährt mit ihrem Sohn im Frühjahr in die Hauptstadt zur Aufnahmeprüfung.

Während der Aufnahmeprüfung hatte der damalige Professor immer jeden zum Schluss gefragt: ›Wie beginnt denn der letzte Satz der neunten Sinfonie von Beethoven?‹ Wenn jemand nicht genau Bescheid wusste, hat er gesagt ›Freude schöner Götterfunken‹, was natürlich falsch ist, denn es beginnt mit: ›Oh Freunde, nicht diese Töne!‹ Und das war für den Professor der Test, ob man das kennt oder nicht kennt, völlig zu Recht. Aber ich kam rein und ich wurde auch wieder gefragt, wie fängt der letzte Satz der neunten Sinfonie an, da habe ich gesagt: ›Das will ich nicht wissen, so etwas höre ich nicht.‹

Dass ein 18-Jähriger eine so ausgeprägte Musikhaltung hat, beeindruckt die Verantwortlichen der Aufnahmekommission. Ingolf Haedicke erhält den letzten freien Studienplatz.

»Das schönste Studium, das man sich vorstellen kann«

Die Studienzeit in Berlin genießt Ingolf Haedicke. Seine erste Studentenwohnung, explizit ihr Stromnetz, muss er allerdings erst einmal für seine Musikabspielgeräte modifizieren. Denn Ost-Berlin wird in den 1960er-Jahren noch per Gleichstromnetz mit Energie versorgt.

Musikwissenschaft studieren ohne Tonbandgeräte und Plattenspieler, das geht nicht. Plattenspieler und Tonbandgeräte funktionieren aber nur mit Wechselstrom. Also was mussten wir machen? Wir mussten uns einen Umformer besorgen, den gab es in Elektrofachgeschäften […], weil sie ja alle Gleichstrom hatten in Berlin Mitte und um Platte oder Tonband zu betreiben, brauchte man Wechselstrom. […] Jedenfalls haben wir uns einen Umformer besorgt, und zwar ein Riesending: zwei Motoren – ein Gleichstrommotor, der einen Wechselstromgenerator antrieb. Den haben wir im Keller eingebaut. Aber diese Generatoren und Motoren haben leider einen Nachteil, sie erzeugen mächtig viele Funken und diese Funken sind ja Störfrequenzen, die den gesamten Fernsehempfang in unserem Haus beeinträchtigt haben. Da haben also unsere Mitbewohner die Deutsche Post bestellt. Die kamen, um die Störquelle ausfindig zu machen. Die waren aber so begeistert von unserer Anlage, weil wir die von jedem Schreibtisch, von jedem Bett aus im Keller unten einschalten konnten. Da sind die zu den Leuten gegangen und haben sie angeschnauzt bevor sie nicht eine Hochantenne hätten, hätten sie kein Recht sich zu beschweren. In Berlin braucht man nun wirkliche keine Hochantenne.

Seine elektrotechnischen Fähigkeiten helfen Ingolf Haedicke nicht nur dann, wenn es ums heimische Musikhören geht, sondern auch, wenn er andere von seinen Lieblingsmusiken überzeugen möchte. Beim obligatorischen Ernteeinsatz, den die Studierenden jedes Jahr auf Feldern der LPG zu absolvieren haben, konstruiert er auf Basis eine Batterietonbandgerätes der Marke Uran ein Kofferabspielgerät.

Dort gab es einen sogenannten Kulturraum für die LPG, die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Dort stand wieder eine Musiktruhe und die haben dort auch wieder von morgen bis nachts nur Musik gehört. Und ich war noch verrückter als die anderen. Meine Liebe zur indischen Musik sollte natürlich nicht bei mir bleiben. Ich habe verzweifelt versucht meine Kommilitonen davon zu überzeugen, dass es die beste Musik aller Zeiten sei. Was habe ich also gemacht? Ich habe einen Koffer genommen, habe da ein Batterietonbandgerät eingebaut, Lautsprecher eingebaut in den Koffer, der Koffer wurde an den Ackerwagen gehängt und meine armen Kommilitonen mussten während der leidigen Sammelei sich immer indische Musik anhören. […] Die Geschwindigkeit war so, dass man mindestens eine Stunde pro Seite überspielen konnte und dann macht man den Koffer auf, drehte dieses Band um, dann kam die nächste Stunde. Ich hatte genügend Bänder mit, dass jeden Tag auf dem Acker neue Musik zu hören war. […] Merkwürdigerweise haben die mich nicht verprügelt, haben es geduldet. Das verstehe ich bis heute nicht, denn ich glaube nicht, dass sie auch Fans waren von indischer Musik wie ich.

Das Tonband spielt auch dann eine wichtige Rolle, als es darum geht, eine Freundschaft zu einem etwas älteren Kommilitone zu retten.

Eines Tages sagte er zu mir: »Pass mal auf Ingolf: Wenn du noch einmal sagst, Beethoven ist Scheiße, dann kündige ich dir meine Freundschaft.“ Und da habe ich einen Schreck bekommen. Das wollte ich nicht riskieren. Was habe ich also in meiner Verzweiflung gemacht? Ich habe die größte Tonbandspule, die ich hatte, das war eine 750 m Spule, mit der geringsten Geschwindigkeit, 4,75 cm pro Sekunde, mit dem schwierigsten überhaupt vollgespielt, mit sämtlichen Streichquartetten von Beethoven. Wochenlang hab’ ich von morgens bis abends nur dieses eine Tonband gehört und nach diesen quälenden vielen Wochen, macht es plötzlich Klick in meinem Gehirn und mir war klar, was ich für ein großes Rindvieh war, dass ich es gewagt haben konnte zu sagen, Beethoven sei Scheiße. Aber das Problem war, ich wusste nicht mehr welcher Satz zu welchem Streichquartett gehörte, weil ich natürlich nie angesagt habe »Jetzt kommt Streichquartett so und so“. Ich musste mir mühselig nachher monatelang, jahrelang zurück erarbeiten, welcher Satz gehört denn eigentlich zu welchem Streichquartett.

Rockmusik in der DDR

Die beatles im DDR-Funk

Mit dem Ende des Studiums Mitte der 1960er-Jahre gibt es zwei Einschnitte in Ingolf Haedickes Leben: Zum einen bleibt er als Assistent am Institut für Musikwissenschaft und wird wenig später die Phonothek leiten. Zum anderen begeistern ihn die Klänge der Beatles.

Georg Knepler war alles andere als ein konventioneller Musikwissenschaftler. Es traten plötzlich die Beatles auf und wir beide wussten sofort, hier passiert etwas ganz Großartiges. Und hätte ich diesen Professor nicht gehabt, ja weiß ich, ob das mal was geworden wäre mit mir. Er hat mich sofort bestätigt, sagte: »Das ist ganz großartig“, denn eines Tages stellte ich fest, mein Gott ich höre ja die Beatles genau so gerne wie Bach und das hat mich irritiert. Und jetzt fing ich an, mich damit zu beschäftigen. Und da mein Professor Österreicher war, konnte er auch immer nach Westberlin, hat für seinen Sohn immer die neusten Beatles-Schallplatten gekauft, kam dann damit zu mir und ich durfte […] sofort die Schallplatten auf Tonband überspielen und habe sie damit besessen.

Wie auch schon bei indischer Musik ist es Ingolf Haedicke nicht nur ein Anliegen, Musik zu besitzen, sondern auch, sie mit anderen zu teilen. Er hält Vorträge über die Beatles und darf sogar Rundfunksendungen gestalten.

Ich habe dann viele, viele Vorträge gemacht in allen Jugendclubs der DDR. Ich hatte auch das große Glück, dass ich in Berlin war, und wer in Ostberlin war, war auch praktisch in Westberlin. […] Und das war der Anfang einer großen Rundfunktätigkeit. Das erste Großprojekt, was ich am Rundfunk […] mit zwei Freunden in Angriff nahm, war auf dem Klassiksender der DDR, der hieß damals DDR 2, […] eine dreiteilige Beatles-Serie, zu je eineinhalb Stunden. Das war für den DDR-Rundfunk ein großes Wagnis, und dann noch auf dem Klassiksender, wo nur Alte Musik oder zeitgenössische Musik gesendet wurde […] Wir wussten genau, das machen wir nicht auf irgendwelchen Jugendsendern oder Rocksendern, sondern für uns ist das Kunstmusik und das gehört in den Klassiksender DDR 2. […] Wir kriegten Westbesuch noch und noch. Die waren es nicht gewöhnt, dass da so über die Beatles geredet wird, sie als Musik ernstgenommen werden, als geniale Verbindung von Wort und Ton, wie man es von Schubert, von Schumann von Hugo Wolf und ähnlichen kennt, das waren die nicht gewöhnt. Denn die, die waren Fans, sammelten Fanartikel, waren stolz dass sie eine seltene Plattenausgabe hatten, aber die Musik haben sie nicht beachtet. Aber wir haben uns natürlich in erster Linie mit der Musik beschäftigt und wir hatten nur ein Ziel: Die Beatles machen Kunstlied. Das war der Tenor unserer dreiteiligen Sendereihe. Die wurde gesendet und daraufhin öffneten sich viele Schleusen und wir wurden eingeladen in der ganzen Republik.

Daneben ermöglichte die Rundfunkerfahrung auch ein neues Hörerlebnis.

Und das tolle war, mit dieser tollen Rundfunkwiedergabeanlage haben wir plötzlich Dinge auf den Platten gehört, die wir mit unseren Plattenspieler nie gehört haben. Wie ausgefeilt das Arrangement war, was da noch alles für Sachen zu hören waren, die wir mit unseren normalen Plattenspielern gar nicht gehört haben. Die Platten mussten wir ja selbst zum Rundfunk mitbringen, denn die hatten ja auch keine Platten, also wir mussten uns die Platten im Original besorgen, das lief über viele Kanäle, Ostgeld in Westgeld umtauschen und so weiter.

Nach dem Erfolg der Beatles-Reihe wird ein Sendungskonzept der drei genehmigt, dass unter dem Titel »Das Album« Konzeptalben der Rockmusik, wie Pink Floyd, Led Zeppelin u.a. untersucht. Was die Sendung so erfolgreich macht und für zahlreiche Fanbriefe sorgt, ist der Umstand, dass wie schon bei der Beatles-Reihe zuvor jede Plattenseite für »musikanalytische« Zwecke voll ausgespielt wird, sodass die Zuhörer*innen die Alben daheim am Tonband mitschneiden können. Die Sendung endet jedoch jäh, schuld sind die Rolling Stones.

Nachdem wir schon, ich glaube sechs oder sieben Sendungen fertig hatten, sind wir zum Redakteur gegangen und haben gesagt: ›So, es hilft alles nichts, wir müssen jetzt die Rolling Stones besprechen.‹ Die Rolling Stones waren in der DDR verboten, durften nicht gesendet werden. Er: ›Seid ihr verrückt?‹. ›Wir machen jetzt nicht mehr weiter, die nächste Sendung‹ haben wir gesagt, ›müssen die Rolling Stones sein. Die haben mit dem Album Beggars Banquet ein wirkliches Konzeptalbum geschaffen.‹ Und zu unserer Überraschung sagte der Redakteur: ›Macht doch Jungs. Überlegt aber nur, wie ihr das Ganze so in der Programmzeitschrift ankündigt, […] dass man das nicht gerade merkt.‹ Da haben wir gesagt, die neuste Albumserie heißt ›Bettlerbankett‹. Die Sendung lief, der Chefredakteur wurde sofort entlassen, versteht sich, und die Albumserie wurde uns verboten. Wir waren aber der Eisbrecher. Vier Wochen später brachte der Jugendsender DDR eine Sendung über die Rolling Stones, das heißt, der Bann war gebrochen. Und ein halbes Jahr später rief die Schallplatte an, ob ich nicht den Plattentext für ein Rolling-Stones-Album machen will. Also darauf bin ich noch heute stolz, dass es uns gelungen ist, dieses sinnlose DDR-Verbot der Rolling Stones endgültig aufzubrechen.

Rezensionen und Liner Notes

Als Amiga 1982 die erste eigene Stones-Kompilation auf den Markt bringt, schreibt Ingolf Haedicke die Liner Notes dafür. Ein Jahr später kümmert er sich um den Plattentext der DDR-Veröffentlichung von John Lennons Shaved Fish. Ausgangspunkt dieser Nebentätigkeit waren Haedickes Rezensionen in der Zeitschrift Unterhaltungskunst, die stets mit derselben Kritik begannen:

Ich habe mich immer geärgert, dass die DDR auf ihren LP-Covern nie die Texte und das genaue Produktionsdatum abgedruckt hat. Und jede meiner Rezensionen fing erst einmal oben dick gedruckt mit der Kopfzeile an: kein Produktionsdatum, kein Textabdruck. Eines Tages kam der Chef von Amiga zu der Zeitschrift, wo ich die Rezension gemacht habe, der Unterhaltungskunst und hat sich aufgeplustert: ›Ey du Spinner hier! Wir sind froh, dass wir überhaupt die Platten haben, und weißt du, VEB Gotha Druck, von der wir die Hüllen kriegen: Wenn wir Glück haben, ist der Güterwagen nicht im Regen stehen geblieben und es kommt nicht verquollen an, und da faselt der wat von Texten abdrucken. Und taugen die Texte wat? Die drucken wir doch nicht ab! Und Produktionsdaten – wir geben doch nicht freiwillig zu, dass es eine Auflage ist von Neunzehnhundertsoundso. Das werden wir doch nicht zugeben, wir wollen doch aktuell sein.‹ Tja, das war das Gespräch in der Angelegenheit.

Ingolf Haedicke legte sich aber nicht nur mit der Amiga, sondern beizeiten auch mit Künstler an. Nach ihrem Konzert im Palast der Republik 1980 überließ die westdeutsche Band Tangerine Dream dem DDR-Musiker Reinhard Lakomy einen Synthesizer, damit alle Rockmusiker*innen Ostdeutschland damit produzieren könnten. Lakomy scheint zu der Zeit eher staatsnah zu sein. Nachdem bspw. die beliebte Sängerin Veronika Fischer 1981 die DDR verließ, schreibt Lakomy einen eher hetzerischen Artikel darüber für die Junge Welt.

Sie verstehen, Herr Lakomy war sofort unser Feind. Es kam der Redakteur von der Unterhaltungskunst, fragte mich, ob ich bereit wäre die Platte zu rezensieren von Herrn Lakomy mit der Vorgabe – Befehl von ganz oben, –  die muss gut besprochen werden. Ich dachte, na dann gib mal her, das wollen wir doch mal sehen. Und dann habe ich mir die größte Mühe gegeben, diese Platte so schlecht zu machen, wie man sie überhaupt nur schlecht machen kann. Zu meiner Schande muss ich gestehen, als dann später andere Platten herauskamen, auch mit elektronischer Musik, musste ich erkennen, dass es noch die beste war. Aber Sie werden verstehen, dem Lakomy gönnte man niemals den Dreck unter dem Nagel, der musste schlecht gemacht werden. Es gab noch eine weitere Gruppe die ich hoch verehrte habe in der DDR, die Gruppe Silly […] Die hatten eine neue Platte rausgebracht und hatten eine Bar gemietet, die sonst nur für Westgeld zu betreten war, und dann dem Redakteur gesagt, sie bestehen darauf, dass ich mal da hinkomme. Und nun war mein Grundsatz immer der, ja nicht mit dem Leuten persönlich in Kontakt treten. Das beeinflusst dich beim Schreiben, ob du willst oder nicht. Ich habe nie irgendwelche Einladungen der Art, auch nicht zur Pressekonferenz, nichts, angenommen. Ich wollte immer der anonyme Außenseiter bleiben. Nun war ich aber an dem Abend mit einer Freundin in einer Kneipe saufen. Das war die einzige Kneipe, die bis ein Uhr nachts aufhatte. So um eins wurden wir rausgeschmissen und wir standen da und wussten, wir sind noch nicht abgefüllt, was machen wir nun? Nichts hat mehr auf, und nur weil ich schon betrunken war – sonst wäre ich nie auf die Idee gekommen – habe ich zu der Freundin gesagt: ›Ich wüsste, wo wir noch was zu trinken gehen, wir müssen da und da hin fahren zu der Bar, wo die Gruppe Silly ihre neue Platte vorstellt.‹ Ich sag‘s nochmal, nüchtern hätte ich das nie gemacht […]. Na jedenfalls sind wir dahingefahren und am Eingang stand so ein Einlasser, so ein bulliger, großer Typ: ›Wat wollt ihr denn hier? Ist geschlossene Veranstaltung, ihr kommt nicht rein.‹ Und ich habe dann irgendwie halb betrunken gemurmelt: ›Ja aber die Silly wollten mich ja mal kennenlernen.‹ Dann habe ich meinen Namen genannt. Plötzlich strahlte er: ›Die warten schon alle auf dich!‹ Wir sofort rein. Tamara Danz, die Sängerin, knutschte mich ab, ich wurde gefeiert. Warum wurde ich gefeiert? Nur weil ich diesen Lakomy madig gemacht hatte. Da habe ich erst einmal kapiert, was ich da angerichtet habe. Für alle Rockmusiker war das die Ohrfeige, die der längst verdient hatte für seinen Hetzartikel in der Jungen Welt.

Reinhard Lakomy selbst schreibt eine Reaktion auf den Verriss, in der er die grundsätzlich kritische Haltung des Rezensenten gegenüber computergenerierter Musik aufgreift. Er bedankt sich zunächst, dass er nun die Noten zu seiner Komposition hätte, schließt aber lakonisch: »Haedicke, habe deine Rezension meinem Computern vorgespielt, wetten dass sie nichts verstanden haben; Lakomy.«

Tonband statt Vinyl – die Sammlung westliche Rockmusik

Nicht nur in Rundfunksendungen und Rezensionen setzt sich Ingolf Haedicke für einen ernsthaften und musikanalytischen Umgang mit Rock- und Popmusik auch internationaler Herkunft ein.  Dieses Ziel verfolgt er ebenfalls als Leiter der Phonothek und Technikbeauftragte des musikwissenschaftlichen Instituts der Humboldt-Universität. Mit offizieller Genehmigung legt Haedicke in seiner Funktion als Phonothekar ein Tonbandarchiv westlicher Rockmusik an, um die Musik den Studierenden zugänglich zu machen.

Ich bin vorher zu meinem Chef gegangen und habe einen kleinen Vortrag gehalten, dass es eine der wesentlichsten Erscheinungen der zeitgenössischen Musik ist, die westliche Rock- und Popmusik. Damals wusste ich noch nicht, wie gut die DDR-Rockmusik war. […] Ich habe gesagt […]: Die müssen wir bei uns im Institut haben. Die Platten kriegen wir nicht, aber ich habe die Gelegenheit, an die Platten ranzukommen und sie an unserem Institut zu überspielen, ob er bereit wäre, mir so und so viel Hunderte von Mark zu Verfügung zu stellen, dass ich die  Leertonbänder kaufen kann dafür. Das ist auch genehmigt worden, ich hatte da wirklich sehr viel Geld zu Verfügung, weil der das auch eingesehen hatte, dass das eine wichtige Musik ist. Ja und so ist dann dieses Archiv entstanden, und zum Schluss habe ich rund 400 Bänder gehabt, beidseitig bespielt also 800 Schallplatten mit den wichtigsten Erscheinungen der Rock-/Popmusik der 60er-/70er-Jahre.

Die Beschaffung der LPs zum Überspielen ist mühselig und funktioniert nur über Buschfunk und Partys.

Es war immer sehr mühselig und hinter jeder Platte war immer eine kleine Geschichte. Das klingt jetzt so einfach, 800 Platten ja, aber die lagen ja nicht auf der Straße. Man erfuhr, jemand hat aus dem Westen die und die Platte bekommen. Der wurde dann eingeladen, der Preis dafür war immer, dass er gleichzeitig von mir einen Tonbandumschnitt kriegte, damit er die Platte wieder weiterverkaufen konnte, denn er wollte sie ja auch nicht behalten, er wollte ja nur den Tonbandumschnitt haben. Dafür durfte ich seine Platte überspielen. Später machte man das dann auf Kassetten […] So ist dieses Archiv entstanden, und um jede Platte wurde gerungen. […] Da wurde ein Fete gemacht, da wurde derjenige eingeladen, wo man wusste, der hatte die neueste ähm Scheibe von dem und dem, und dann, während die Fete stattfand, wurde sie auf Tonband schnell überspielt und dann habe ich sie ins Institut getan und es wurde so richtig archiviert, mit Karteikarte, mit allem Drum und Dran. […] Ich hatte ja dort Studiogeräte, die sonst nur der Rundfunk hatte. Ich habe alles auf diese großen Studiobänder überspielt, also in guter Qualität stereophon natürlich sowohl auf Heimband zum Ausleihen als auch auf die großen Spulen, die nicht weggegeben werden durften.

Für die Ergänzung der Phonothekbestände ändert Haedicke die bestehende Sammlungssystematik und organisiert Tonträgerbehältnisse, die nach seinen Vorgaben gefertigt werden.

Vorher hat die Bibliothekarin das gemacht und die hat ein für mich absolut sinnloses System eingeführt, nach Komponisten zu ordnen. Das heißt mit anderen Worten, die Platten Beethoven lag in einem Fach, Bach in einem anderen Fach, und die lagen die Platten. Liegende Platten bedeutet, wenn Sie an die unterste wollen, können Sie die oberen alle abheben ehe Sie an die untere kommen. Ich habe sofort diese Schränke umgebaut, habe ich alles selbst gemacht. Dann bin ich noch zu einem Freund gefahren, der hat eine Tischlerei bei Strausberg, da habe ich die Schränke alle selber gebaut, dass die Platten senkrecht stehen. Ich habe mir da extra Pappen anfertigen lassen für je 20 Stück LPs, damit sie nicht fallen, denn wenn sie schräg stehen, verbeulen sie sich. Und dann habe ich natürlich fortlaufend nummeriert, das heißt der ganze Katalog wurde umgeschrieben und die Platten wurden fortlaufend nummeriert, damit ich nicht bei jeder neuen Platte gucken musste, ob der Stapel noch ausreichend ist. […] Ich musste das alte System ändern. Das war für mich völlig idiotisch gewesen nach Komponistenhäufchen. Das kann man machen, wenn man nur die zehn wichtigen Komponisten sammelt, aber nicht, wenn man eine große Sammlung anlegt.

DAS INTERVIEW WURDE GEFÜHRT VON CHRISTINA DÖRFLING.

Abbildungen

Abb. 1: Ingolf Haedicke (r.) musiziert mit seinen beiden Geschwistern. Privatbesitz Ingolf Haedicke.
Abb. 2: The Rolling Stones, The Rolling Stones, Frontansicht, Amiga 1982.
Abb. 3: Liner Notes zu The Rolling Stones von Ingolf Haedicke.
Abb. 4: John Lennon Shaved Fish, Frontansicht, Amiga 1983.
Abb. 5: Liner Notes zu John Lennon Shaved Fish von Ingolf Haedicke.
Abb. 6 a-c: Lacomy I Rezension v. I. Haedicke in Unterhaltungskunst 10(1982), S. 26-28.
Abb. 7: Reinhard Lakomy Das geheime Leben - Electronics, Amiga 1982.
Abb. 8: Phonothek um 2000. Ingolf Haedicke.
Abb. 9: Phonothek um 2000. Ingolf Haedicke.
Abb. 10: Phonothek um 2000. Ingolf Haedicke.
Abb. 11: Phonothek um 2000. Ingolf Haedicke.
Abb. 12: Ansicht Wohnung. Christina Dörfling.
Abb. 13: Ansicht Wohnung. Christina Dörfling.
Abb. 14: Ansicht Wohnung. Christina Dörfling.