Reinhard Lorenz
Leiter des Lippmann+Rau Musikarchivs Eisenach

Reinhard Lorenz bei der
Bestandsaufnahme
einer Sammlung.
Foto: Evelin Lorenz

Der Traum vom klingenden Marbach – Reinhard Lorenz über das Sammeln und Archivieren von Musik

Zur Person

Reinhard Lorenz kommt am 5.3.1952 in Etterwinden als Sohn eines Werkzeugmachers und einer Stanzerin zu Welt. Als Kind hört er beim Förster im Nachbarort erstmals Grammophonmusik. Nach dem Umzug nach Eisenach (1960) lernt er die Rolling Stones, Louis Armstrong wie auch sein Tonbandgerät lieben und hält noch vor dem Abitur Vorträge über Jazz- und Bluesmusik. Später wird er ganze Radiosendungen gestalten, regelmäßig für Musik‑ und Kulturzeitschriften der DDR schreiben und gemeinsam mit Michael Rauhut ein Buch herausgeben (Ich habe den Blues schon etwas länger Ch Links Verlag 2008). Bereits als Jugendlicher tritt er dem örtlichen Jazzclub bei, dessen Vorsitz er 1986 übernimmt. Sowohl in dieser als auch in der Funktion des städtischen Kulturamtsleiters (seit 1990) setzt er sich dafür ein, dass neben Wartburg, Bach‑ und Lutherhaus ein Internationales Jazzarchiv gegründet wird. 1999 eingeweiht geht es zehn Jahre später in der Lippmann+Rau Stiftung als gleichnamiges Musikarchiv auf. Gegenwärtig hat Reinhard Lorenz als dessen Archivleiter die Hoheit über mehr als 100.000 Tonträger, 60.000 Bücher und Zeitschriften sowie Nachlässe internationaler Sammler*innen, Fotograf*innen und Musiker*innen.

Das Interview ist in drei Abschnitte geteilt. Sie können es mithilfe der Buttons entweder chronologisch oder thematisch lesen.

Also für mich, ich kann jetzt nur für mich sprechen und für meine Frau, war diese Musik die Sehnsucht nach einer individuellen Freiheit, die wir sicherlich mit achtzehn, neunzehn anders definiert haben als heute. Aber damals waren wir doch mehr oder weniger eingeschlossen hinter einer Mauer, die uns den Blick in die Welt versperrt hat. Und die Musik, die von draußen in diese Welt eingedrungen ist, war für uns verbunden mit der Sehnsucht nach Freiheit. […] dieses Gefühl einer Sehnsucht, das liebten wir und daran haben wir einfach geglaubt.

Biografische Skizzen eines Musiksammlers in der ddr

Stones und Boas statt Wagner und »weiße Birken«

Für jemanden, der in der Nähe zum Thüringer Wald aufwächst, scheint es nicht verwunderlich, dass beim ersten Kontakt mit Tonträgern ein Förster im Spiel war. Da seine Mutter viel arbeiten muss, schickt sie Reinhard Lorenz regelmäßig in den Nachbarort Waldfisch zu seiner »geliebten« Patentante Else, die beim örtlichen Förster Haushaltshilfe ist.

Ein Paradies war für mich das Arbeitszimmer des Försters; bis unter die Decke voller Bücher, Jagdzeitschriften und manch andrer Dinge zum Schauen und Staunen. Unter anderem stand in der Ecke ein Grammophon aus den neunzehnhundertzwanziger Jahren, davor ein Stapel Schellack-Platten. Das Abspielen dieser faszinierte mich ein ums andere Mal. Ich lauschte den Wagner-Arien und Militärmärschen. […] Es war für mich gigantisch alt. Also allein, wie er [der Förster] den Tonarm aufgesetzt hat auf die Platte, das ist mir alles im Bilde geblieben. Und ich durfte übrigens auch nur Platten hören, wenn ich wirklich artig gewesen war. Also wenn irgendwelcher Stress aufkam, dann war das Grammophon tabu. Aber es war der Sound, den diese Nadel provoziert hat und der in mein kindliches Gemüt irgendwie eingedrungen ist.  

Daneben erinnert Reinhard Lorenz auch das elterliche Radio als Musikquelle der Kindertage:

Das zweite prägende Hörerlebnis dieser Zeit entstammte einem voluminösen Radioapparat, ich glaube der Marke Sonneberg. Diesen hatten sich meine Eltern geleistet, vor allem wohl, um wieder ein Stück näher an ihre alte Heimat zu rücken, das Sudetenland. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete der Deutschlandfunk mit seiner sonntäglichen Sendung ›Stunde der Volksmusik‹. ›Drei weiße Birken in meiner Heimat stehen‹ bohrte sich damals tief in mein kindliches Gemüt und sorgte für eine frühe Apathie gegenüber dieser Art von Musik und melancholischer Fröhlichkeit.

1960 verlässt Tante Else die DDR gen Westdeutschland und die Familie zieht nach Eisenach um. In der neuen Schule erlebt Lorenz seine musikalische Initialisierung. Er ist zwölf Jahre alt, als er das erste Mal die Beatles und Jazz hört. Mit dreizehn erlebt er sein erstes Konzert: Louis Armstrong in der Thüringenhalle in Erfurt. Danach beginnt er zu sammeln.  

Frau G. jedenfalls spielte uns 1964 in einer denkwürdigen Musikstunde Aufnahmen der Beatles vor. ›I Want to Hold Your Hand‹; wir nahmen es in Gedanken wörtlich. Im Kunstunterricht folgte ich in dieser Zeit gebannt den Ausführungen eines jungen Lehrers, der zu uns wie aus einer anderen Welt sprach; aus der Welt der Farben und Klänge. Sein Vater war Direktor des Eisenacher Bach-Hauses; er selbst war eines der Gründungsmitglieder des Jazz-Clubs Eisenach. Manchmal brachte er, Eckhardt D., ein transportables Grammophon mit in den Unterricht und spielte uns Aufnahmen von Kurt Henkels vor. Diesem Kunstlehrer entging wohl nicht mein Interesse an derlei Dingen und so kam es, dass er mich ansprach, mit ihm und Gleichgesinnten nach Erfurt zu fahren. Dort spielte am 7.4.1965 in der Thüringenhalle ein Gigant des Jazz, der Trompeter Louis Armstrong. Allerdings kostete die Karte 23 Mark der DDR. Nie werde ich das entgeisterte Gesicht meiner Mutter vergessen. Nach dem Erlebnis Louis Armstrong, dessen Musik mich in einen anderen Kosmos katapultierte, wollte ich nur noch eins: mehr davon hören. Ich trat in den Eisenacher Jazz-Club ein und sammelte fortan alles, was ich zu dieser Musik ergattern konnte: Schallplatten, Bücher, Zeitschriften, vor allem aber Gleichgesinnte, mit denen ich mich austauschen konnte.

Das Verlangen nach dieser Art von Musik lebt Lorenz in den Folgejahren aus, insbesondere mit dem Wechsel auf die Oberschule 1966.

Die folgenden vier Jahre wurden zu einem neuen, intensiven Lebensabschnitt voller Entdeckungen, vor allem am Radio. Da lockten der hessische Rundfunk, Radio Luxemburg, aber auch die Stimme der Radiolegende John Peel aus dem fernen London. All das brachte mir die längst geliebte Musik, mancher Erwachsene nannte sie immer noch Nigger-Musik, immer näher.

Daheim hört der Vater Ernst Mosch und die Egerländer Musikanten auf einem »sehr schlichten Plattenspieler«. Für Reinhard Lorenz spielt die LP in der Zeit jedoch kaum eine Rolle, allein weil die internationalen Rockalben auf Vinyl in der DDR kaum zu bekommen sind.

Als ich […] das Radio meiner Eltern mitnutzen durfte, hatte ich schon Sehnsucht nach weiterem, also ich wollte Musik konservieren, um sie in mein Leben zu holen, […] und das ist dann mit dem Tonband passiert. […] Die Langspielplatte war im Vergleich zur Tonbandspur und den vielen Stunden, die man darauf bannen konnte, nicht so relevant. […] Um meiner Sammelleidenschaft von Tonaufnahmen das Nötige zu bieten, war das Tonband einfach effizienter als die Schallplatte.

Musikaneignung in der DDR – von Tesla zu Grundig

Der Weg dahin, sich die Musik ins eigene Leben holen zu können, ist allerdings beschwerlich. Mit 14 Jahren arbeitet Reinhard Lorenz einige Monate auf einer Eisenacher Brückenbaustelle als Hilfsarbeiter, um sich den Traum von einem eigenen Tonbandgerät zu erfüllen. Den Job hat sein Vater ihm vermittelt, die damals gebaute Brücke steht heute noch.

Ende 1966, ich hatte mir über die Herbstmonate als Hilfsarbeiter auf dem Bau einiges Geld verdient, hielt ich endlich meinen Traum in den Händen, ein Tonbandgerät der tschechischen Marke Tesla, Zweispursystem, schmuck das schwarz-graue Gehäuse. […] Meine Mutter hat mir abends, wenn ich vom Bau kam, die Hände massiert. Ich konnte die gar nicht mehr aufmachen: Schaufeln! Ich musste meistens irgendwelchen Dreck wegschippen, was die Arbeiter nicht gern gemacht haben. Aber es fehlten dann noch zweihundert Mark. […] Das zweispurige kostete glaub ich siebenhundert Mark der DDR und ich hatte fünfhundert und zweihundert haben meine Eltern noch draufgelegt. Aber ich hab’ dieses Tonband gehegt und gepflegt, jede Woche mit Seifenlauge abgewaschen. Also man hatte dazu natürlich auch eine ganz andre Beziehung, weil das schwer war, also für mich jedenfalls, so ein Gerät zu bekommen.

Die Beschwerlichkeit in der Beschaffung hängt allerdings nicht nur mit der finanziellen, sondern auch einer planwirtschaftlichen Dimension zusammen.

Die Technik in der DDR war ja relativ begrenzt, allein vom Markt her. Also du konntest nicht losgehen und sagen: ›Ich kauf mir jetzt mal das und das.‹, sondern du musstest erst bestellen, in der Regel. Und man hat dem auch nicht so die Bedeutung beigemessen, dass es nochmal ein Kniff raffinierter sein muss oder irgend sowas. Sondern man war zufrieden, sag ich jetzt mal so platt, wenn man überhaupt ein Gerät bekommen hat.

Doch Reinhard Lorenz hat Glück. Drei Jahre später kann er sein Erstgerät verkaufen, um sich ein neues mit vier Spuren zuzulegen.

Und das absolut Tollste war dann, dass ich die polnische Lizenz-Ausgabe von Grundig bekam, das ist ein Standgerät. Da hab’  ich immer von geträumt. Auf Fotos hab’ ich das gesehen, wenn das Gerät stand und die Spulen an der Seite waren. Oah, das sah so cool aus. Und das hab’  ich auch heute noch, das Gerät.

Das Tonbandgerät wird für Lorenz das wichtigste Instrument, sich einerseits seiner Liebe zu Jazz und westlicher Rockmusik vollends hinzugeben.

Mit Rainer K. verbrachte ich in den Jahren bis zum Abitur viel Zeit in manchmal ganzen Wochenend-Sessions. […] Wir füllten Tonbandspur um Tonbandspur. Unsere Helden, Miles Davis, John Coltrane, John McLaughlin, Count Basie, natürlich sämtliche Bands der frühen britischen Beat-Szene […].

Andererseits wird es ihm nun auch möglich, seine Leidenschaft mit anderen zu teilen. Er gründet einen Blues-Club im Automobilwerk Eisenach, in dem er regelmäßig Vorträge hält, natürlich mit Tonbandgerät und musikalisch gerahmt durch Mitschnitte aus dem Radio und Umschnitten von LPs. Als einer der wenigen Gymnasiasten mit Tonbandgerät wird Lorenz auch gern als DJ zu Partys eingeladen. In dieser Funktion lernt er Silvester 1967 über den Titel »My Girl« seine spätere Frau Evelin kennen und lieben.

Als er 1976 wegen der Geburt ihres ersten gemeinsamen Sohnes Otis das Muddy Waters Konzert auf der Jambouree in Warschau verpasst, schneidet sein Freund »Winne« das Konzert vor Ort mit für ihn. Mit »Soul-Winne« verbindet ihn eine lange und klingende Briefreundschaft.

Wir hatten damals so kleine Kassettengeräte. Und es gab dazu sogenannte Briefkassetten. Und dann, wenn ich im hessischen Rundfunk irgendeine Aufnahme gefischt hatte, von Coltrane oder den Stones, dann hab’ ich die immer überspielt und hab dazu gesprochen mit Mikro: ›Lieber Winne, habe gefunden, tolle Sache, hör dir das mal an, super Text.‹ Also wir haben mittels dieser kleinen Kassetten, dieser Mini-Kassetten, korrespondiert.

Ende der 1970er-Jahre, nunmehr musikalisch fortgebildet durch RIAS und Hessischen Rundfunk, wird Lorenz‘ erste eigene Radiosendung bei DT64 übertragen.

Meine erste Sendung war glaube ich Muddy Waters, die Manuskripte hab’ ich übrigens alle noch. Und das hat mir Riesenspaß gemacht, mich einfach hinzusetzen nachts – es geschah in der Regel alles nachts –, zu sagen, ich such mir jetzt ein Thema raus und stöbere in den Platten und such die Titel. Was will ich dem, der zuhört, sagen? Was will ich dem über meine Textzeilen mitteilen? Dann hab’ ich die sechs, sieben Platten unterm Arm geklemmt, bin abends um sieben – da fuhr der letzte Zug – nach Berlin und war meistens früh gegen vier in der Nalepastraße. Jürgen Balitzki hat schon gewartet und dann wurde das umgeschnitten und er hat die Texte gesprochen. Ich hab’ meine Platten wieder genommen und bin mit dem Vormittagszug nach Hause gefahren. War ganz simpel, acht Jahre, neun Jahre lang. Hat mir Riesenspaß gemacht.

Über die Jahre wächst seine Sammlung auf ca. 280 Tonbänder an. Mit dem Mauerfall verschwinden sie allerdings aus seinem Leben.

Das war ja mehr oder weniger ein Ersatzmechanismus, weil du an die Originale auch nicht rankamst. So haben wir es jedenfalls gesehen. […] Ich hab’  die ganzen Bänder [entsorgt]. Ich hätte sie vielleicht aufheben sollen, aber es war einfach dieser Mauerfall. Das war dann so ein emotionales Erlebnis, wo man dachte: ›Jetzt fängst du da an, wo du eigentlich schon vor zwanzig Jahren anfangen wolltest. Dein Leben zu bestimmen und jetzt brauchst du das nicht mehr, jetzt hast du Zugang zu Platten, zu Büchern, zu etc.‹ Also man ist in dem Moment nicht so nah an seiner Geschichte dran, das kommt dann einfach erst später.

Lippmann+rau-musikarchiv eisenach

Jazz und Blues im geteilten Deutschland

Abb. 1: Reinhard Lorenz' Tesla-Tonbandgerät.
Foto: Evelin Lorenz

Abb. 2: »Reiseschreibmaschine« »Erika«.
Foto: Evelin Lorenz

Mit dem Interesse für Jazz- und Blues-Musik wächst bei Reinhard Lorenz auch die Neugierde an der amerikanischen Kultur, insbesondere der Geschichten und Lebensbedingungen eben derjenigen Musiker*innen, deren Klänge ihn so berühren. 1969 im Zelturlaub mit Evelin, entdeckt er in einer Kirche ein Buch. »Kein Mensch und kein Land kann halbfrei leben« liest er in der DDR-Ausgabe von Martin Luther Kings Warum wir nicht länger warten können. Vier Jahre später, bei den 10. Weltfestspielen in Ostberlin erlebt er Angela Davis.

überall war der Sound zu hören, den wir so liebten. Zudem befanden wir uns alle im kollektiven Angela-Davis-Rausch. Schwarz sein, Style, Afro-Look. Wir waren hingerissen von ihrer Präsenz und Ausstrahlung.

Zuvor übersteht Reinhard Lorenz seine NVA-Zeit »auf einem Motorboot der Marke Volvo an der Grenze zu Westberlin« trotz RIAS-Klängen aus dem Radio mehr schlecht als recht. Ab 1972 erlebt er während des Studiums der Sportwissenschaft in Leipzig Klaus Lenz, Uschi Brüning und Veronika Fischer und leiht sich Jazz-Platten im polnischen Informationszentrum aus. Während er den Sport knapp zehn Jahre später aus Protest gegen das DDR-Dopingsystem hinter sich lassen wird, bleiben Lenz und Brüning. 1976 lernt er in Berlin bei einem Konzert im kleinen Saal des Palastes der Republik den in Westdeutschland lebenden Jazzmusiker Günter Boas kennen, dessen Nachlass 1993 den Grundstock des späteren Jazzarchivs in Eisenach bilden wird.

Seit seiner Schulzeit ist die Reiseschreibmaschine »Erika« mit Breitwagen für querformatiges Schreiben neben dem Tonband Lorenz‘ wichtigstes Utensil, sowohl für die tabellarische Erfassung seiner Tonbänder als auch für nationale wie internationale Korrespondenzen. Noch als Gymnasiast tippt er auf ihr dem Gospel-Doktor Theo Lehmann Dankeszeilen für sein Buch Blues & Trouble. 1966 schreibt er auf ihr seine Anzeige für die Zeitschrift Jazzforum: »Suche Blues- und Jazzfreund«, auf die er noch 2020 eine Antwort erhält. 1976 verfasst er auf »Erika« einen entscheidenden Brief. Er hatte gerade im Hessischen Rundfunk einen Kurzbericht über den »German Blues Circle. Verein zur Verbreitung des Blues in Deutschland« gehört.

[…] was ich wörtlich nahm. Ich schmuggelte einen Brief nach Frankfurt und war wenige Wochen später mit der Mitgliedsnummer 124 einer von drei Ost-Mitgliedern. Bis heute sind die Verbindungen von damals vorhanden, menschlich wie musikalisch wichtige Wegweiser, ohne welche das Archiv vielleicht nicht entstanden wäre. […] Da ist ein Personenkreis zusammengekommen in meinem Leben, wo ich immer anklopfen kann und da kommt immer irgendwas zurück. Und vor allem die Gewissheit, dass man das Leben nutzen sollte, um sich selbst zu vervollkommnen und andere um sich herum möglichst auch.

Zunächst bereitet ihm die Mitgliedschaft allerdings Probleme:

Als dieser Mitgliedsausweis vom German Blues Circle dann '77 hochgezogen wurde und ich auf einmal Mitglied einer westlichen Organisation war! Das war nicht lustig – die Verhöre, in Anführungszeichen. Du konntest dich dann immer wieder rausreden: ›Ja, das ist aber doch Musik des afroamerikanischen Proletariats‹, also diese Billig-Formel, die aber in beidseitiger Anwendung immer wieder funktioniert hat, wenn du es nicht überzogen hast.

Durch den Kontakt zu den Westdeutschen Bluesenthusiasten hat Lorenz in der Folge die Möglichkeit, seine Schallplattensammlung auszubauen – zumindest theoretisch.

Vinylplatten gab‘s nur in Spezialläden unter der Hand in der Regel. Also die, die Jazzplatten weniger, aber die Rockplatten auf jeden Fall. Und ich bekam dann später natürlich relativ viele von Freunden des German Blues Circle geschickt und geschenkt. Das ist nochmal ein ganz anderes Kapitel, weil man natürlich immer unter den Augen der Staatssicherheit diesem Hobby nachging. […] manchmal bekam ich Paketsendungen, die äußerlich unversehrt waren, aber die Langspielplatten im Inneren waren in der Mitte durchgebrochen. Was man sich ja nur erklären kann, dass die Zollbeamten sie an der Tischkante zerschlagen haben […]. Verbindungen zum kapitalistischen Ausland, nenn ich es jetzt mal salopp, waren ja nicht erwünscht. Also die hat man versucht zu kontrollieren. Ich habe jede Chance genutzt, um aus diesem Ring auszubrechen. Ich hatte beispielsweise einen Partner in Palo Alto, Kalifornien, Tom Boyd, hieß der. […] Der war sehr interessiert an der J. B. Lenoir-Platte, die auf Amiga erschienen war. J. B. Lenoir stand in den USA auf dem Index durch seinen Korea-Blues, Vietnam-Blues usw. Da hab’  ich für eine Amiga J. B. Lenoir in der Regel zehn LPs von ihm bekommen. Nichts ahnend hatte er ins erste Paket zehn Platten reingesteckt. Das hat mich natürlich nie erreicht. […] die haben dich schon wissen lassen, dass sie dich im Koordinatensystem haben.

Doch manchmal kam die internationale Musikwelt auch auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs. Als das American Folk Blues Festival 1982 in Frankfurt Oder Station macht, ist Lorenz selbstredend auch vor Ort. Einer der Veranstalter, Horst Lippmann, wurde immerhin in Eisenach geboren. Bislang kannte Lorenz ihn nur aus dem Radio, von der Sonntagnachmittagsendung »Swing-Party« im Hessischen Rundfunk. Nun hat er endlich die Möglichkeit den Mann zu treffen, der später einer der Namenspatronen für das Musikarchiv in der Lutherstadt sein wird.

Und als ich ‘82 nach Frankfurt Oder fuhr, ich weiß nicht, was alles in meinem Kopf herumspukte, aber auf jeden Fall wollte ich Verbindungen suchen zu jemandem, der mir vielleicht irgendwie aus meiner Misere helfen konnte, also mit Platten oder Büchern oder Informationen. Und ich wollte ihm einfach auch zeigen, was in seiner Heimatstadt so läuft, oder nicht läuft. Und ich werde nie vergessen, als ich mich dann durchgemogelt hatte in den Backstage-Bereich und sagte: ›Herr Lippmann, ich komm aus ihrer Heimatstadt Eisenach.‹, sagte er in tiefstem frankfurtisch: ›Ey, was!‹

Nach der Wende treffen sich Lorenz und Lippmann erneut. Der Konzertveranstalter sichert dem Archivprojekt Unterstützung zu, verstirbt allerdings bereits 1997.

Ideologiefreie Zone Alte Mälzerei

Von der Idee eines Jazzarchivs in Eisenach, bis zu seiner tatsächlichen Eröffnung vergehen mehr als zehn Jahre, inklusive eines zwischenzeitlichen politischen Umbruchs.

1985 reifte die Archiv-Idee immer stärker in mir; mir schwebte vor, eine ideologiefreie Zone für junge Leute aus der DDR. […] Die Idee des Archivs, das sich heute Lippmann-und-Rau-Musikarchiv nennt, kam ja nicht aus der Hintergründigkeit des Sammelns als solchem, sondern aus der Idee, einen Informationsraum zu schaffen, für Menschen, junge Menschen, die keinen Zugang hatten zu dem wenigen Material auf dem Gebiet Jazz und Rock, dass es zu Ost-Zeiten gab. […] Wir fanden seitens des Jazz-Clubs ein Industriedenkmal am östlichen Stadtrand; Günther Boas merkte bei einem seiner Besuche in Eisenach an, dass er sich vorstellen könne, seine Sammlung zum Grundstein des Archivs werden zu lassen. Er glaubte immer an den Fall der Mauer und eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. 1999 dann die offizielle Eröffnung des internationalen Eisenacher Jazz-Archivs durch Patrick Truhn, den damaligen Generalkonsul der USA.

Sowohl die Idee, als auch die Ausführung eines Archiv wird von Beginn an durch das ehrenamtliche Engagement der Mitgliedern des städtischen Jazz-Clubs getragen und vorangebracht.

Dann haben wir uns jeden Montagabend von sechs bis neun getroffen und haben Zeitungsartikel ausgeschnitten, Bücher sortiert. Ich habe doch nie für möglich gehalten, dass wir mal auf tausend Quadratmetern keinen Platz mehr haben! Und wir haben, ich habe, was mir oft passiert ist, den Nerv getroffen von irgendetwas in meinen Projekten und in dem Falle war das so, dass eine Generation von Sammlern augenscheinlich an einem Punkt war, wo sie gesagt haben ›Wohin mit dem, was ich ein Leben lang zusammengetragen habe?‹ […] Als ich dann Amtsleiter war und Erfahrung hatte, hab’ ich gemerkt: ›Aha, was ist das anderes als die Klassik-Stiftung Weimar? Es ist nur ein anderer Inhalt.‹ Da wird ein Goethe-Brief aufbewahrt, hier wird ein Armstrong-Brief aufbewahrt. Wo mit Verlaub ist der Unterschied? Dann hat das eine immer größere Dimension bekommen und dann gab‘s irgendwann kein Zurück mehr. Und dann hatte ich das Glück, dass ich den Daniel Eckenfelder getroffen habe.

Mit Daniel Eckenfelder leitet Lorenz heute gemeinsam das Lippmann+Rau-Musikarchiv, das 2009 mit Gründung der gleichnamigen Stiftung seinen neuen Namen bekam. Die Sammlungsstruktur wird dabei von den Sammler*innen selbst vorgegeben.

Die war insofern wichtig, weil ich überzeugt davon war, dass wir die Sammlung, die Themen so inselartig strukturieren, also nicht nach Objekten, also Schallplatten, Büchern, Zeitschriften oder so, sondern speziell die Nachlässe, die wir kriegen, in sich geschlossen lassen, also um die Person herum bauen. Das hat sich insofern als Volltreffer erwiesen, weil manche Sammler gesagt haben: ›Ups, das endet ja dann doch nicht in irgendwelcher Anonymität verschiedener Räume, sondern der will ein Foto und auch noch die Geschichte der Sammlung, da bleibt ja etwas.‹ […]  Oftmals sind die Sammlungen sehr unterschiedlich strukturiert, manchmal ist da fantastische Vorarbeit geleistet worden. Manches kommt halt in Schuhkartons und Umzugskartons, da muss man dann dem Ganzen ein bisschen eine Form geben. […] Es ging ja auch darum, eine Heimat für die Geschichte des Eisenacher Jazz zu schaffen, mit der ich mich über viele Jahrzehnte beschäftigt habe, seit dem Armstrong-Konzert. Also da ist der Nachlass meines geliebten Kunstlehrers jetzt hier um die Ecke zu finden, mit seinem Strohhut und seinen Malutensilien. Wir haben zudem einen Brief, den er von Hermann Hesse bekommen hat, wie ich später entdeckt habe. Es ging darum, dass das auch eine Heimat kriegt und nicht verloren geht in den Winden des Lebens. Das hab’ ich mir völlig naiv vorgestellt.

In den vergleichsweise wenigen Jahren seines Bestehens hat sich das Archiv einen internationalen Namen gemacht. Ein Teil der Bestände musste mittlerweile sogar extern gelagert werden. Lorenz und Eckenfelder wünschen sich einen Anbau, der u.a. das Platzproblem beheben soll. Bis die Finanzierung gesichert ist, nehmen sie dennoch weiterhin Sammlungen an. In der Alten Mälzerei am Eisenacher Stadtrand finden sich Nachlässe von Berlin bis New Orleans. Mittlerweile kommen Besitzer*innen potentieller Archivalien direkt auf Lorenz zu:

Da kommt jemand und bietet uns eine weltweit wahrscheinlich einzigartige Sammlung an. Das ehrt einen und freut einen. Aber dann geht es darum, eine vertragliche Struktur zu finden, dass beide Seiten möglichst zu ihrem Recht kommen. Die Sammlerseite will ja in der Regel eine fachliche Aufbewahrung, also eine Öffentlichmachung und wir wollen uns absichern, dass nicht irgendwelche juristischen Dinge auftreten, die uns dann in Schwierigkeiten bringen.

Manchmal fordern die Sammler*innen dafür eine finanzielle oder auch eine persönliche Gegenleistung. So erinnert sich Lorenz an seinen Besuch in München bei Klaus H., der – schwer erkrankt – vor Überlassung seiner Rocksammlung ein Kennenlernen wünscht.

Das waren bewegende Stunden, die ich mit ihm verbracht hab. Wir haben da drei Stunden Luftgitarre gespielt und zwei Flaschen Rotwein getrunken. Und er hat mir von Pink Floyd die rarsten Sachen vorgespielt. Und dann frag ich so zwischendurch: ›Klaus, erzähl mal, warum bist du Sammler geworden, warum hast du das gesammelt?‹ ›Weil mein Vater ein Faschist war.‹ […] Die ganzen Begegnungen mit den Sammlern, das ist ja völlig verrückt. Aber das hat mir alles was gegeben, alles was gebracht. Abgesehen davon, dass ich manchmal nachts im Schlaf hochschrecke, schweißüberströmt und sage: ›Wow, warum hast du das alles gemacht? Wenn jetzt kein Neubau kommt, wohin sollen wir mit dem ganzen Eingelagerten?‹

Neben seiner Funktion als Leiter des L+R-Musikarchivs ist Reinhard Lorenz weiterhin Sammler geblieben.

Meine private Sammlung ist meinen Interessen und Neigungen zufolge entstanden, wobei ich jetzt – wenn ich das spontan überlege – sage, es gibt eigentlich keinen großen Unterschied. Ich hab’ von Anfang an mein privates Archiv oder meine private Sammlung und die hier versucht zu strukturieren, nach Qualität in erster Linie. Mit Qualität meine ich jetzt nicht, was das Einzelne angeht, sondern die Aussagekraft der Sammlung als solche, das Motiv. […] Also ich hab’ nie auf Teufel komm raus nach der letzten Matrizennummer geguckt, sondern mir war das Große und Ganze einfach wichtiger.

Trotzdem hat sich Lorenz’ eigene Sammlung in den letzten Jahren verändert.

Das Sammeln ist übergegangen ins Archivieren. […] Seit es das Archiv – mehr oder weniger offiziell – gibt, sammle ich schon auf zwei Ebenen. Also ich vervollkommne meine Sammlung zugunsten des Archivs, weil ich weiß, dass die auch eines Tages hier landen wird. Aber natürlich lasse ich auch manches weg, was hier im Archiv ist. Ich hab’ ja das Glück und das Privileg, dass ich aus meiner Sammlung zuhause aussteigen kann, die Tür hier aufschließe und in einer anderen archivalen Welt bin. Also meine Sammlung zuhause ist nicht grundsätzlich anders strukturiert, das wäre nicht richtig, aber sie ist komprimierter. […] Aber es ist im Laufe meines Lebens keine riesige Vinylsammlung zusammengekommen, es sind vielleicht zweieinhalbtausend. Durch Fritz Marschall hab’  ich das viel später mal gelernt, weil ich gesagt hab: ›Oah, du hast so viel und ich hab’ so wenig.‹ Da hat er gesagt: ›Aber jede deiner Schallplatten hat eine Geschichte. Das ist bei mir nicht so.‹ Und da ist mir klar geworden, es geht einfach auch um die Intensität des Lebens und dessen, womit man umgeht. Also wahr ist bis heute, dass ich fast zu jeder Platte, die ich rausziehe, eine spezielle Geschichte erzählen kann, wie ich sie gekriegt habe, über Umwege, während das im Westen selbstverständlich war, die in Chicago zu bestellen.

Wie auch im Musikarchiv, pflegt Lorenz daheim ebenso Aby Warburgs »Prinzip der guten Nachbarschaft«, nicht nur inhaltlich, sondern auch in Fragen des Formats.

Ich sag mal, dass hochzurechnen im Maßstab, vielleicht lieg ich ein bisschen daneben, aber auf 50 Platten kommen 150 Bücher. Also weil ich bei Platten merke, dass ich relativ häufig zurückgreife auf das, was ich eh oft höre. […] Wenn es geht, kauf ich eigentlich nur noch Vinyl. […] Das ist für mich einfach handhabbarer und es ist einfach strapazierfähiger. Die erste CD-Generation, wenn ich manchmal jetzt jahrelang eine nicht gehört habe und leg die auf, denke ich ›Uh, was das denn? Musst du mal putzen. Geht immer noch nicht. Also kannst du die wegschmeißen.‹ Also das sind jetzt rein praktische Gründe. Und ich hab’  einfach gerne eine Langspielplatte in der Hand, muss ich auch dazu sagen. […] sie ist für mich das kulturgeschichtlich interessantere Medium. […] Wenn ich die Möglichkeit habe, die frühen Rundfunkaufnahmen der Stones, die es unter dem Titel ›Air‹ gab, als CD zu kaufen oder als Vinyl, dann sag ich: ›Nee, ich nehm’ Vinyl.‹ Weil, wenn ich das in der Hand habe, dann kann ich das neben die 50 Stones-Platten stellen, die ich eh schon habe.

Abb. 11: ​Ein Blick auf Lorenz' heimische Tonträgersammlung.
Foto: Evelin Lorenz

DAS INTERVIEW WURDE GEFÜHRT VON CHRISTINA DÖRFLING.

Abbildungen

Abb. 1: Reinhard Lorenz' Tesla-Tonbandgerät. Evelin Lorenz.
Abb. 2: »Reiseschreibmaschine« »Erika«. Evelin Lorenz.
Abb. 3: Die Sammlung. L+R Musikarchiv.
Abb. 4: Lesesaal. L+R Musikarchiv.
Abb. 5: Die Sammlung. L+R Musikarchiv.
Abb. 6: Die Alte Mälzerei. L+R Musikarchiv.
Abb. 7: Offene Buchsammlung. L+R Musikarchiv.
Abb. 8: Briefaufriss Louis Armstrong an Günther Boas. L+R Musikarchiv.
Abb. 9: Sammlung Plakate. L+R Musikarchiv.
Abb. 10: Kurt Baumgart, Jazz, Holzschnitt 1935. L+R Musikarchiv.
Abb. 11: ​Ein Blick auf Lorenz' heimische Tonträgersammlung. Evelin Lorenz.