Tonbänder
dienten dem Zusammenstellen von Musik, die sich jugendliche Hörer*innen nicht
beschaffen oder leisten, aber im Radio mitschneiden konnten. Das Tonband 50 5311 gibt
keine weiteren Hinweise zu seiner Nutzung preis, doch es lässt sich – da dieses
Medium häufig zum Aufzeichnen von Radiosendungen genutzt wurde – ein
Erlebnispotential von Tonbändern als alltäglichen Musikobjekten von
Jugendlichen in Deutschland, sowohl in der BRD als auch in der DDR, skizzieren.
Das Dossier ist in drei Abschnitte geteilt. Sie können es mithilfe der Buttons entweder chronologisch oder thematisch lesen. Eine Infobox zu Radiomitschnitten in der DDR bietet zusätzliche Hintergrundinformationen.
Bei dem Gegenstand handelt es sich
um ein Tonband der Marke Agfa in einer handbeschrifteten Pappkartonhülle, deren
Text größtenteils nicht mehr leserlich ist. Das Leertonband wurde bespielt und
an mehreren Stellen geschnitten. Es lag in einer Pappkartonhülle in einem Regal
mit weiteren Leertonbändern mit Mitschnitten verschiedener Art vor, entstanden vermutlich
im privaten Kontext. Das Tonband 50 5311 ist nur eines von vielen in der
großen Sammlung des Lippmann+Rau-Musikarchivs. Mit seinen Beschriftungen,
insbesondere dem handschriftlichen »Ossi«, das vermutlich ein Sammler namens
Paul Franke (ebenfalls vermerkt auf der Hülle) ergänzt hatte, und seinen in das
Material eingeklebten Spuren ist es ein treffender Repräsentant der sich
verändernden Musikwelt in beiden deutschen Staaten nach 1950.
Das Tonband besteht aus einer Plastikspule aus Kunststoff, auf der ein mehrfach geklebtes, schwarzes Magnettonband mit einem lange, grünen Vorspannband aufgewickelt ist. Auf Spule und Hülle findet sich der Name »Agfa«, außerdem eine Maßangabe (Strichmarkierungen), vermutlich war es für den Heimgebrauch gedacht, da Bänder für den privaten Gebrauch im Normalfall ein grünes Vorlauf- und ein rotes Abspannband enthielten (vgl. Abb. 1; im Rundfunkbereich waren die Vorspannbänder meist grau bis gelb; Rose 2017, Rindfleisch 1971: 74). Die einzigen sichtbaren Nutzungsspuren am Band sind jene Klebespuren, die sich an verschiedenen Stellen des Bandes finden und gut sichtbar sind (vgl. Abb. 1).
Abb. 1:
Das Tonband 53
5011 mit der Agfa-Papphülle (Front) und in einer Detailansicht, in
der die Klebespuren im Bandverlauf und das grüne Vorspannband zu sehen sind.
Foto:
BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur
Die Hülle des Tonbands ist eine rot-braune
Kartonverpackung. Die Hülle hat sich insgesamt leicht gewölbt und damit der in
der Mitte breiteren Form der Spule angepasst (vgl. Abb. 2). Die Hülle des
Tonbandes ist vermutlich nicht mehr vollständig, denn vergleichbare Hüllen weisen
einen Deckel auf, auf dem die Angabe »VEB Filmfabrik Agfa Wolfen« stehen würde.
Die Hülle ist stark abgenutzt, besonders an den Ecken und Rändern (vgl. Abb.
2). Die Spuren legen nahe, dass das Band oft aus der Hülle genommen und dass
die Hülle vermutlich vor allem mit der abgewetzten Seite aus dem Regal gezogen
wurde.
Abweichend von Schallplatten (vgl. die Dossiers zur Schellackplatte und 7“-Single) stellen Leertonbänder ein Format dar, das selten direkt beschriftet ist. Stattdessen finden sich die Informationen zu den Inhalten entweder in beigelegten Zetteln (vgl. Abb. 2) oder, wie in diesem Fall, auf der Hülle. Insbesondere die frühen Leertonband-Hüllen aus Pappe boten gerahmte Felder, in denen Inhalte verzeichnet werden konnten (vgl. Abb. 2). Allgemein lässt sich bei einer kursorischen Beschau der Hüllen in der Sammlung Franke feststellen, dass diese Beschriftungsfelder eher selten genutzt wurden. Informationszettel in den Hüllen oder in den Ordnern zu den Hüllen ermöglichten es, die Bänder neu zu bespielen und damit den im Material begründeten Mehrwert von Tonbändern tatsächlich auszunutzen. Mitunter, wie auch im Fall von 53 5011, wurden die Informationen zum Inhalt aber auch scheinbar willkürlich über die Hülle verteilt. Konkret heißt dies: Das Objekt ist an verschiedenen Stellen mit Bleistift beschriftet. Auffällig sind zunächst die oben im Deckelabschnitt vermerkten Notizen »Ossi« (hinten, Abb. 2) und »Nachlass Paul Franke«. Aus diesen und weiteren verschiedenen Notizen lässt sich ableiten, dass es sich vermutlich um ein »Mixtonband« handelt (in Analogie zum Mixtape), auf dem verschiedene Titel zusammengeschnitten wurden. Kombiniert wurden dabei entweder Schallplatten- oder häufig auch Radiomitschnitte. Um diese Nutzung von Leertonbändern entfaltet sich eine komplexe historische Sachlage, deren Darstellung sich im Folgenden zunehmend von dem konkreten Band 53 5011 entfernen wird, um sich vor allem auf die Herstellung von Musiktonbändern durch Jugendliche in der DDR zu konzentrieren.
Abb. 2: Die Rückseite der
Agfa-Papphülle und die Notizen auf der Rückseite.
Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte
der populären Kultur
Ein wichtiger Schritt der Tonaufzeichnung war zunächst der
Tondraht bzw. der Drahtton, wobei »Schallereignisse mit Hilfe [...]
magnetisierter Stahlbänder« (Braun/Kaiser 1997: 167) aufgezeichnet wurden. Erstmals
wurde diese Technologie 1900 auf der Weltausstellung in Paris von dem Dänen
Valdemar Poulsen vorgestellt. In der deutschen Forschungslandschaft waren neben
Elektrizitätsunternehmen wie AEG oder Siemens & Halske vor allem Einzelakteure
aktiv, etwa Fritz Pfleumer, dessen Familie in den 1910er- und 1920er-Jahren
durch eine Reihe von Patentverfahren und Entwicklungen in Erscheinung trat
(vgl. Engel et al. 2013: 36 f.). Ab 1932 kam es zur Zusammenarbeit Pfleumers mit
der AEG, die wiederum mit der I.G. Farben kooperierte. Unter dem Namen I.G.
Farben hatten sich bereits 1925 acht große deutsche Chemiekonzerne – darunter
Agfa und BASF – zusammengeschlossen, die bereits über Erfahrungen in der
Herstellung photographisch-chemischer Speichermaterialien verfügten. Die Kooperation
mit der AEG brachte die technische Geräteherstellung und die chemische Tonbandproduktion
der BASF auf Grundlage des Pfleumer-Patents (DRP 500900A, Pfleumer 1930)
zusammen: AEG Magnetophon und Magnetophonband Typ C der I.G. Farben. Im Verbund
der Werke und Firmen, darunter auch das Agfa-Werk in Wolfen, wurde die
Magnettontechnik stetig weiterentwickelt, wobei es immer wieder zu Konflikten
und Patentstreitigkeiten kam. Die Unternehmen waren tief in die Gräuel des
NS-Regimes verstrickt.
Die hochwertige Aufnahmetechnologie der Deutschen hatte bereits im Zweiten Weltkrieg die Aufmerksamkeit der Alliierten auf sich gezogen. Nach dem Krieg machten die Alliierten die Studiotechnik und Bandfabriken ausfindig; so lieferte die Agfa ab 1948 aus Leverkusen neue Bänder (vgl. Holenstein 2001: 90), die Fabrik in Wolfen produzierte bereits ab März 1946 wieder (vgl. Bode 2008: 83). Das Tonband wurde nach dem Krieg schnell erfolgreich. Insgesamt kalkulierte man 1963 etwa mit 2,5 Millionen Geräten in Westdeutschland, wie die BASF schätzte (Trainer 1963: 69). Die BASF ging aufgrund persönlicher Korrespondenz mit ihrer Kundschaft von »150 Tonbändern und mehr« (ebd.) pro Person aus. Der Weltumsatz für Tonbänder läge bei etwa 400 Millionen D-Mark, »basierend auf den Fabrikabgabepreisen« (ebd.), wovon etwa die Hälfte der Produktion auf Nordamerika entfalle; neben Westdeutschland träten ansonsten vor allem Großbritannien und Frankreich als Produzenten in Erscheinung. Es existierte eine Vielzahl von Tonband-Geräteherstellern; die Anzahl der Firmen, die Leertonbänder zum Verkauf anboten, stieg vor allem im Übergang zu den 1950er-Jahren zunehmend an. [1]
Trotz der Vielfalt an Tonbandmarken überwiegt in den Sammlungen in
Eisenach deutlich die Auswahl an rot-orangenen (oder schwarzen) BASF-Bandhüllen
und grauen Agfa-Gevaert-Hüllen. In der DDR lag das Monopol für die Herstellung
von Datenbändern, also Magnettonbändern, zunächst bei einem Agfa-Nachfolger, der
VEB Filmfabrik Wolfen (vgl. Bode 2008: 84).
Insgesamt war der
Tonbandmarkt in den 1960er-Jahren zunehmend umkämpft und erforderte einen
stetigen Ausbau der eigenen Unternehmensstrukturen, um konkurrenzfähig zu
bleiben. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte der Agfa, von der auch das
Tonband 53 5011 stammt. Als
ehemaliges Mitglied der I.G. Farben lagen ihre Fabriken in drei Besatzungszonen
(Camerawerk München, amerikanisch; Photopapierfabrik Leverkusen, britisch; Filmfabrik
Wolfen, sowjetisch). Die Fabriken im Westen operierten nach verschiedenen
Übernahmen und Vereinbarungen wieder gemeinsam. Bereits 1956 hatte man sich mit
dem verbliebenen Werk in Wolfen, das als Staatsbetrieb der DDR weitergeführt wurde,
nach Lizenzstreitigkeiten auf ein Warenzeichen-Abkommen verständigt. Wolfen
produzierte von 1956 bis 1964 zunächst noch als VEB Filmfabrik Agfa Wolfen,
danach unter dem Label Orwo (Original Wolfen; Bänder, die vor dieser
Zeit produziert, aber nach dieser Zeit verwendet wurden, weisen deshalb häufig
eine Schwärzung des Markennamens auf. Das eingangs diskutierte Entfernen des
Deckels des Bandes 53 5011 wäre
eigentlich nicht notwendig, könnte aber damit in Zusammenhang stehen).
Das Band fällt in die Übergangsphase vom Tonband zur Musikkassette, aber auch in eine Zeit, in der in der DDR die Tonbandproduktion noch deutlich im Ausbau war. Die Musikkassette wurde 1963 von Philips erstmals vorgestellt, bediente sich derselben Magnetbandtechnologie und zielte auf ähnliche Nutzer*innen ab wie das Tonband. Die Kassette stellte ein mobiles Gegenstück zu den häufig schwereren Tonbandgerät-Aufbauten dar und sicherte sich ab 1968 (vgl. Röther 2012: 417) und vor allem in den 1970er- sowie den 1980er-Jahren mit dem Walkman wesentliche Marktanteile gegenüber dem Tonband, denn die Musikkassette war günstig, robust und leichter zu bedienen (kein Bandsalat, kein umständliches Einfädeln: vgl. ebd. 435) sowie individuell gestaltbar.
Abb. 3: Logo und Etikett einer 500m Spule aus dem Hause Agfa.
Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte
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Der Tonband-Musikmarkt wurde bald nach seiner Etablierung zu einem juristisch umkämpften Schauplatz. Die westdeutsche Musikindustrie, etwa Musiklabels und GEMA, kritisierte, dass Radio- oder Schallplatten-Repertoire per Mitschnitt in den Besitz von Hörer*innen übergehen konnte, die prinzipiell mit diesen Musikstücken Handel und Tausch betreiben konnten. In Werbeanzeigen verwiesen die Gerätehersteller sogar konkret auf jene Passagen des geltenden Rechts, die Privatkopien für den ›persönlichen Gebrauch‹ erlaubten (vgl. Anonym 1953a: 26). Eine internationale Tragweite erreichte der Konflikt in den frühen 1950er-Jahren, als klassische Aufnahmen aus dem Radio aus West- und Ostdeutschland international verkauft wurden und damit ein günstiger Schwarzmarkt parallel zum das Schallplattengeschäft der Musiklabels entstand, wobei auch Rundfunkarchive ›ausgeschöpft wurden‹, wie der Stern recherchierte (Anonym 1953b: 26).
Nach jahrelangen Rechtsstreitigkeiten etablierte sich das System
der Herstellergebühr: Der neu geregelte »Vergütungsanspruch« bedeutete, dass
die Tonbandhersteller nun verpflichtet waren, fünf Prozent des Verkaufserlöses an
die Verwertungsgesellschaft abzugeben (vgl. ebd.). Im Gegenzug blieb die
Privatkopie erlaubt. In einer Ausgabe des Tonbandfreunds bewarb Grundig 1966 sein Cassetten-Tonbandgerät C100 mit dem Hinweis: »Überspielungen
von Rundfunksendungen für den privaten Gebrauch« (Anonym 1966: 56).
Die DDR führte zunächst ebenfalls die Urheberrechtsgesetze und Verlagsgesetze von 1901 fort (vgl. Ulmer 1960: 58). 1956 wurde das Büro für Urheberrecht gegründet, dessen Aufgabe die Beratung und Betreuung in Urheberrechtsfragen war. Ab 1951 ersetzte in der DDR die Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte (AWA) die GEMA. Das private Mitschneiden und Tauschen von Schallplatten und westlichen Radiosendungen auf Tonband unterlief die staatliche Organisation von Unterhaltungsangeboten. Während Schallplatten in ihrer Einfuhr kontrolliert werden konnten, war eine Kontrolle der Radioprogramme, und der durch sie möglichen Mitschnitte, kaum umsetzbar. Diese »inoffiziellen Publikationsformen« (Kuschel 2016: 278) wurden auch »Magnitizdat« genannt (die Tonträger-Variante des bekannteren »Samisdat«, womit in der Sowjetunion politik-kritische, »per Hand geschriebene, auf der Schreibmaschine getippte oder fotokopierte Texte« bezeichnet wurden; Amelina 2006: 166).
Eine eher selten thematisierte Besonderheit der Tonbänder ist ihr ästhetisches Potenzial. Mit Blick auf die später populär gewordenen Musikkassetten wird dieses Potenzial unter dem Strauss’schen Begriff der Bricolage diskutiert. In diesem Kontext bezieht er sich auf das Zusammenfügen oder das (Zurecht-)›Basteln‹ von Song-Abfolgen einerseits und einer illustrierten Hülle andererseits und die Verbindung aller Bestandteile zu einem »Gesamt(kunst)werk« (Grösch/Hühners/Rützel 2005: 26). Die Gegenstände, mit denen gebastelt wird, sind dabei eine Ansammlung von »gesammelten Gelegenheiten« (ebd.: 28), die neu zusammengefügt werden. Häufig wird dafür der Begriff der ›Collage‹ bemüht und dieser findet auch bei Lorenz in dessen Beschreibung seiner Tonbandpraxis Anwendung. Obwohl die meisten Bänder in Eisenach in einer beschrifteten Papphülle verpackt sind oder sogar gänzlich ohne Beschriftungen auf Hülle und Band auskommen und ihnen mitunter nur ein Zettel beigelegt ist, erinnert sich Lorenz an aufwändig gestaltete Hüllen. Hier scheint sich eine partiell divergierende Handhabung von Jugendlichen auf der einen Seite und erwachsenen Musiksammler*innen auf der anderen Seite zu offenbaren: Einerseits werden die Tonträger als kommunikative und künstlerische Objekte behandelt (Ausdruck von Individualität, Originalität, Lebensstil, politischen Präferenzen etc.), anderseits fungieren sie als Sammlungsgegenstand. Denn insbesondere Hüllen, die als Geschenk gedacht waren, seien aufwändig gestaltet worden: »[D]ie [...] Bänder waren ja [...] präpariert, also man konnte da natürlich Informationen außen [ergänzen]. [...] [D]as äußere Cover, wenn man so will, das haben wir zum Teil, dann gerade bei diesen Best Of- oder Geschenkbändern [...] richtig zum kleinen Kunstobjekt gemacht« (Lorenz 2019). Die Techniken ähneln jenen, die später bei Musikkassetten populär wurden. Die Verzierungen der Hüllen waren dabei beispielsweise in Collagen, zum Beispiel aus Pressematerial, angelegt, die man ergänzte oder karikierte. Mitunter gestaltete man auch einzelne Buchstaben als Hingucker und designte dann eine Schrift um diese Buchstaben, »wie das auch ein bisschen an der Penne damals üblich war« (ebd.). Dass man den Hüllen ihren Aufwand, ihre Besonderheit, ansah, war explizites Ziel dieser Praxis und fügte sich auch mit der Ausstellung der Tonbänder als Musikobjekt im heimischen Regal. Für Lorenz war diese Form der Kunstanwendung durchaus auch ein implizites politisches Statement gegen die ›Einengung‹ individueller Entfaltung in der DDR: »Also was wirklich wichtig war, war, das Individuelle zu betonen, um sich vom Kollektiven abzuheben« (ebd.).
Das Tonband und seine Hülle boten hier einen kreativen Rahmen, der jedoch gleichsam organisational eingehegt wurde. Denn die Verzierungen und Songzusammenstellungen wurden ergänzt von zusätzlichen Papierordnern, die für die Tonbänder angelegt wurden und in denen die Tracklisten der Tonbänder und deren Quellen aufgeführt werden konnten. Lorenz verfügte dabei über mindestens vier verschiedene Formen von Tonbändern, für die er auch Listen anlegte: erstens Aufzeichnungen von Radiosendungen oder Platten (Ausgangsmaterial), zweitens genrespezifische Bänder (Blues, Jazz, etc.), drittens motivisch oder thematisch zusammengestellte Bänder (wie spätere Mixtapes) und viertens Tonbriefe mit einzelnen Titeln zum Austausch in der Szene. Insbesondere an Letztere knüpft sich die Bedeutung der Tonbandtechnologie in der Konstitution von Musikszenen und Gruppen, die hier abschließend kurz thematisiert werden soll.
Das Versenden so genannter
Brieftonbänder markierte eine weitere Nutzungsoption in Bezug auf das Tonband.
Auf diese Weise konnten – nicht nur innerhalb der DDR – Radioprogramme als Mitschnitt
über ihre Sendegebiete hinaus geteilt werden. In der BRD vernetzten sich
ebenfalls Tonbandfreunde mit Amateurhintergrund, und zwar nicht nur über die
Mitgliederverzeichnisse der Tonbandzeitschriften, sondern ab 1965
beispielsweise auch über eine eigens eingerichtete ›Kontaktstelle‹ in München
(vgl. Keil 1965: 53). In der DDR konnten ORWO-Brieftonbänder aus Wolfen, wie in
der BRD auch mit einer Papphülle mit Adressfeld und Platz für eine Briefmarke versehen,
ebenfalls versendet werden. Der Versand dieser Brieftonbänder zwischen der DDR und
der BRD war, zumindest in der Erinnerung von Zeitzeugen, anders als bei
Schallplatten, jedoch nicht gestattet (vgl. eine Diskussion: Anonym 2013). [2]
Dies mag auch mit der bereits skizzierten Debatte um ›Raubkopien‹ oder andere Inhalte zusammenhängen, da diese Tonbänder nicht alle kontrolliert werden konnten (während Briefe bei der staatlichen Kontrolle der Postwege ›überflogen‹ werden konnten, hätten Tonbänder in ganzer Länge, häufig siebeneinhalb Minuten oder mehr, abgehört werden müssen). Die Voraussetzung für den postalischen Verkehr von Musiktonbändern in der DDR und im sozialistischen Ausland waren Plattformen und Orte, die der Vernetzung dienten. Dies waren einerseits vor allem die Konzerte, erklärt Reinhard Lorenz: »Die Orte reichten von Eisenach über Berlin, bis Prag, Warschau, also da wo, wo die Szenetreffs mit Ostbeteiligung waren [...]. Und da hat man sich aufeinander eingelassen« (Lorenz 2019). Ein anderes Forum bildeten die Jugendzeitschriften, Zeitungen und Rundfunksendungen, über die »ganz pragmatisch etwa über die Rubrik Kleinanzeigen« (Zaddach 2018: 172) andere Musik- oder Tonbandfans gesucht werden konnten. Gezielter, so Lorenz, ließ sich der Kontakt aber über Magazine herstellen, die selbst produziert und unter der Hand verteilt wurden. Dortige Anzeigen waren häufig explizit auf den Tausch von Tonbändern ausgerichtet, »so nach dem Motto: ich sammle Tonbänder, wollt ihr nicht mit mir tauschen« (Lorenz 2019). Seine eigene lokale Szene beschreibt Lorenz dabei als klar vom Hessischen Rundfunk und dessen Jazzprogramm geprägt. Abhängig von der jeweils zur Verfügung stehenden Technik, aber auch von den Wetterbedingungen (für den UKW-Empfang) bildeten sich so Inseln einer populärmusikalischen Jugendkultur, die allerdings mit anderen Gruppen vernetzt waren: »Dann hatte man den Kumpel in Plauen, oder was weiß ich wo, und der hat gesagt er schickt die [...] Sendung von XY: ›und du schickst mir dafür deine Swing-Party vom letzten Sonntag, die ich nicht kriegen konnte‹« (ebd.). Hinzu kam die Mobilität der jungen Hörer*innen in der DDR. So erinnert sich Lorenz an seinen »Freund Winne, der wiederum von Berlin nach Jena zog (oder Kahla), aber in Berlin [...] seine Verbindungsleute hatte« (ebd.). Bedingt durch die Lebensentwürfe der Jugendlichen und die Mobilität der Tonbänder als kleine, handliche Tonträger sei »richtig Bewegung in der Szene« (ebd.) gewesen. Mehr noch, die Radiosendungen ermöglichten einen Zugriff auf die Szenen in der BRD:
Das Radio war aber das Hauptkommunikationsmittel, also über das Radio habe ich Kontakte [...] vermittelt bekommen, die ich dann versucht habe zu nutzten – mehr oder weniger illegal. Also das Beispiel ist der German Blues Circle, Mitte der Siebzigerjahre gegründet [...] in Frankfurt. Die haben sich im Hessischen Rundfunk –Teens, Twens, Top Time hieß die Sendung – vorgestellt, [...] da bin ich natürlich total elektrisiert gewesen. [Ich] hab’ dann ’nen Brief geschrieben mit meiner kleinen Reiseschreibmaschine, [...] hab’ den einer Cousine meiner Frau mitgegeben, die in Frankfurt wohnte. Hab’ gesagt: Kann sie den in Frankfurt einstecken? Und dann hab’ ich Antwort gekriegt, also heißt der HR hat das weitergeleitet an die Typen und daraus sind ja die ganzen Beziehungen, die bis heute halten, entstanden. (Lorenz 2019)
Diese transnationalen Tonträger-Verkettungen, die bei kommerziell hergestellten und privat gekauften Schallplatten beginnen, welche im Fall von Lorenz wiederum über den HR ausgestrahlt wurden und dann auf Tonbändern in der DDR eine neue Aneignung fanden, zeigen, dass die Tonträgernutzung keineswegs ein Randthema in der deutsch-deutschen Geschichte markiert. Das Radio und der Briefverkehr bedingten in Verbund mit den spezifischen materiellen Eigenschaften der Leertonträger die Konstituierung neuer Szenen. Tonbänder substituierten nicht nur die populärmusikalischen »Defizite, die [...] natürlich in der DDR total da« (ebd.) waren, sondern wurden in ähnlicher Form in der Bundesrepublik eingesetzt und lassen sich damit heute als bemerkenswertes Moment jugendkultureller Identitätsbildung über den Eisernen Vorhang hinweg lesen.
Abb. 5: Handschriftliche Notizen auf einer Tonbandhülle.
Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte
der populären Kultur
Mit dem Magnettonband entstand ab den 1930er-Jahren eine neue Form
des Tonspeichers, die sich grundlegend von der den Markt dominierenden
Schallplatte unterschied. Die elektromagnetische Speicherung via Tonband
ermöglichte in der Nachkriegszeit eine neue Form des Musikmarktes und der
Sammlungspraxis: Amateur*innen konnten nun mit Aufnahme- und Abspielgeräten
Musik aus dem Radio mitschneiden. Die konkrete Handhabung der Musiktonbänder,
für die das untersuchte Tonband 50 5311 stellvertretend steht, fand sich
beispielhaft in der Alltagspraxis des jungen Jazzfans Reinhard Lorenz, der in
der DDR Musik aus dem »Westradio« mitschnitt und in seinem Jugendzimmer
sammelte und dokumentierte sowie tauschte. Das Wissen über den kreativen Umgang
mit den Tonbändern war für die jugendlichen Nutzer*innen implizit und selbst
erlernt, durch Beobachtung oder Ausprobieren, und es wurde im Austausch
gefestigt, wobei der Mitschnitt von Musik aus dem Radio insbesondere über
Ländergrenzen hinweg eine Grauzone darstellte.
Das Radio wusste viel über diese jungen Hörer*innen, und im Westen
wurden die Programme in den 1970er-Jahren zunehmend in die ›Jungen Wellen‹
überführt (Formatradio). Parallel stiegen die Jugendlichen von Tonbändern auf
Musikkassetten um. Mit dem Leertonband veränderte sich das Machtgefüge in der
Unterhaltungsindustrie hin zu einer neuen Amateur- und, in gewisser Hinsicht, Prosumer-Szene.
Die Bänder drohten, die Monopole auf Information und Unterhaltung aufzuheben,
die sich mit Schallplatten etabliert hatten. Mit den Tonbändern und
Tonbandgeräten verbanden sich deshalb früh Rechtstreitigkeiten, die die spätere
Erschütterung des musikökonomischen Status quo durch die Musikkassette und noch
später durch Filesharing und Streaming vorwegnahmen. Die Tonbänder und
Mixtonbänder, die einst bunt verziert als Verbindung zur Welt und als Ausdruck
der eigenen Individualität erstellt worden waren, verloren bereits in der DDR,
spätestens aber nach der Wende als Speichermedium jedoch ihre Bedeutung. Ein
Faktor in dieser Entwicklung war sicherlich auch die Musikkassette.
Es bleibt die Frage der Affektivität: Warum haben im Laufe der Zeit gerade die Leertonträger unter jugendlichen Nutzer*innen ihren emotionalen Wert so deutlich eingebüßt? Reinhard Lorenz steht heute zwischen den Bändern anderer Sammler*innen in seinem Musikarchiv in Eisenach und wirkt diesbezüglich etwas ratlos: »Ich hab’ das alles weggeschmissen, das ist wirklich verrückt, nach der Wende, weil ich hab gesagt: Warum brauch ich das? Das war ein ganzes Regal voll« (Lorenz 2019).
DAS DOSSIER WURDE VERFASST VON LAURA NIEBLING.
Einzelnachweise
[1] Die BASF zählte im Jahr
1968 für eine Bestandsaufnahme des Marktes für Heimtonbandgeräte in ihren Technischen
Informationen (Nr. 43) allein für Deutschland 24 Hersteller auf (vgl. Engel
et al. 2013: 304). Die Tonbandmarken umfassten ein noch breiteres Sortiment
deutscher und ausländischer Firmen wie 3M(/Ferrania), AEG, Agfa, Ampex, BASF, Braun, Fuji, Grundig,
Maxell, Memorex, MPS/Saba, Olympic, Orwo, Permaton, Philips, Revox, Scotch,
Shamrock, Sony, TDK, Teac, Telefunken, Uher, Universum und Xerox. Hinzu kommen
beispielsweise im Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach heute diverse, nicht
mehr identifizierbare Bandspulen im, die mitunter beispielsweise nur mit »N«
(Neckermann?) markiert sind.
[2] In derselben Unterhaltung im Bandmaschinenforum wird
auch noch eine vermutlich eher ungewöhnliche Nutzung thematisiert: Ein männlicher
Zeitzeuge aus der DDR berichtete, dass er die kleinen Bänder für seine
Auftritte in der Disco nutzte, da sie leicht und schnell zu wechseln waren
(vgl. Anonym 2013).
Quellen
Literatur:
Amelina, Anna (2006). Propaganda oder Autonomie? Das russische Fernsehen von 1970 bis heute. Bielefeld: transcript.
Anonym (1953a). Lauscher an der Wand. In: Der Spiegel, 27.05.1953, S. 26–28.
Anonym (1953b). Klassiker zu Vorzugspreisen. In: Der Spiegel, 04.02.1953, S. 26–28.
Anonym (1966). Grundig Werbung, Cassetten-Tonbandgerät C100. In: Der Tonbandfreund 3/1966, S. 56.
Anonym (2013). »Briefband« / Tape Letter / Message Sonore BASF. <https://forum2.magnetofon.de/board2-tonbandgeräte/board16-alles-andere/15397-briefband-tape-letter-message-sonore-basf/> [04.10.2019].
Bode, Herbert (2008). Die Magnetbandfabrik Dessau. In: Dessauer Kalender 52/2008, S. 82–91.
Braun, Hans-Joachim/Kaiser, Walter (1997). Energiewirtschaft – Automatisierung – Information [Propyläen Technikgeschichte, Band 5]. Berlin: Propyläen.
Engel, Friedrich/Kuper, Gerhard/Bell, Frank/Münzner, Wulf (2013). Zeitschichten. Magnetbandtechnik als Kulturträger. Erfinder-Biographien und Erfindungen. 3. Auflage. Potsdam: Polzer.
Grösch, Julia/Hüners, Susanne/Rützel, Andrea (2005). »Mach mir ein Mixtape!« Das kleine Einmaleins der Kassettenproduktionen. In: Gerrit Herlyn und Thomas Overdick (Hg.), Kassettengeschichten – Von Menschen und ihren Mixtapes. Münster: Lit, S. 26–42.
Holenstein, Peter (2001). Die sprechenden Maschinen. Studer-Revox: das Lebenswerk des Audiopioniers Willy Studer. Zürich: Oesch.
Keil, Bodo (1965). Wie komme ich zum Bandaustausch mit Tonbandfreunden? In: Der Tonbandfreund 2/1965, S. 53.
Kuschel, Franziska (2016). Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser: Die DDR und die Westmedien. Göttingen: Wallstein Verlag.
Lorenz, Reinhard (2019). Interview mit Reinhard Lorenz, Eisenach 28.05.2019.
Müller, Siegfried (2016). Kultur in Deutschland. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Stuttgart: Kohlhammer.
Pfleumer, Fritz (1930). Lautschrifttraeger. DRP 500900A (26.06.1930).
Rindfleisch, Heinrich (1971). Magnetbandtechnik. Erklärung von Fachausdrücken mit einem Fachwörterlexikon. 7. Auflage. Leverkusen-Bayerwerk: Agfa-Gevaert AG.
Rose, Christoph (verm. 2017). Tonband Vorlaufbänder. <https://www.studerundrevox.de/info-wissenswert/wissenswert/tonband-vorlaufbaender/> [24.02.2020].
Röther, Monika (2012). The Sound Of Distinction. Phonogeräte in der Bundesrepublik Deutschland (1957–1973). Marburg: Tectum.
Trainer, Ludwig (1963). Die Tonbandindustrie in Deutschland und der Welt. In: Der Tonbandfreund 3/1963, S. 68–70.
Ulmer, Eugen (1960). Urheber- und Verlagsrecht. Berlin: Springer.
Zaddach, Wolf-Georg (2018). Heavy Metal In Der DDR. Szene, Akteure, Praktiken. Bielefeld: transcript.
Abbildungen
Abb. 1: Das Tonband 53 5011 mit
Klebespuren im Bandverlauf und das grüne Vorspannband. BMBF-Projekt Musikobjekte
der populären Kultur.
Abb. 2: Das Tonband 53 5011 mit
der Agfa-Papphülle (Front). BMBF-Projekt Musikobjekte
der populären Kultur.
Abb. 3: Die Rückseite der
Agfa-Papphülle sowie Detailansicht auf das Herstellerlogo mit grünem
Schriftzug. BMBF-Projekt Musikobjekte
der populären Kultur.
Abb. 4:
Ein Aufnahme
des jungen Reinhard Lorenz (rechts) mit Bluesbuddy Winfried >Soulwinne<
Freyer (links), ca. 1975. Privatarchiv, Reinhard Lorenz.
Abb. 5: Die Rückseite der
Agfa-Papphülle sowie Detailansichten und die Notizen auf der Rückseite. BMBF-Projekt Musikobjekte
der populären Kultur.