Tonband 53 5011 (undatiert)

Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur

Das Tonband, das junge Radio und die ›Schwarzhörer*innen‹ in der DDR

Tonbänder dienten dem Zusammenstellen von Musik, die sich jugendliche Hörer*innen nicht beschaffen oder leisten, aber im Radio mitschneiden konnten. Das Tonband 50 5311 gibt keine weiteren Hinweise zu seiner Nutzung preis, doch es lässt sich – da dieses Medium häufig zum Aufzeichnen von Radiosendungen genutzt wurde – ein Erlebnispotential von Tonbändern als alltäglichen Musikobjekten von Jugendlichen in Deutschland, sowohl in der BRD als auch in der DDR, skizzieren.

Das Dossier ist in drei Abschnitte geteilt. Sie können es mithilfe der Buttons entweder chronologisch oder thematisch lesen. Eine Infobox zu Radiomitschnitten in der DDR bietet zusätzliche Hintergrundinformationen.

das musikobjekt – tonband und hülle

Abb. 1: ​ Das Tonband 53 5011 mit der Agfa-Papphülle (Front) und in einer Detailansicht, in der die Klebespuren im Bandverlauf und das grüne Vorspannband zu sehen sind.
Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur

Die Hülle des Tonbands ist eine rot-braune Kartonverpackung. Die Hülle hat sich insgesamt leicht gewölbt und damit der in der Mitte breiteren Form der Spule angepasst (vgl. Abb. 2). Die Hülle des Tonbandes ist vermutlich nicht mehr vollständig, denn vergleichbare Hüllen weisen einen Deckel auf, auf dem die Angabe »VEB Filmfabrik Agfa Wolfen« stehen würde. Die Hülle ist stark abgenutzt, besonders an den Ecken und Rändern (vgl. Abb. 2). Die Spuren legen nahe, dass das Band oft aus der Hülle genommen und dass die Hülle vermutlich vor allem mit der abgewetzten Seite aus dem Regal gezogen wurde.

Abweichend von Schallplatten (vgl. die Dossiers zur Schellackplatte und 7“-Single) stellen Leertonbänder ein Format dar, das selten direkt beschriftet ist. Stattdessen finden sich die Informationen zu den Inhalten entweder in beigelegten Zetteln (vgl. Abb. 2) oder, wie in diesem Fall, auf der Hülle. Insbesondere die frühen Leertonband-Hüllen aus Pappe boten gerahmte Felder, in denen Inhalte verzeichnet werden konnten (vgl. Abb. 2). Allgemein lässt sich bei einer kursorischen Beschau der Hüllen in der Sammlung Franke feststellen, dass diese Beschriftungsfelder eher selten genutzt wurden. Informationszettel in den Hüllen oder in den Ordnern zu den Hüllen ermöglichten es, die Bänder neu zu bespielen und damit den im Material begründeten Mehrwert von Tonbändern tatsächlich auszunutzen. Mitunter, wie auch im Fall von 53 5011, wurden die Informationen zum Inhalt aber auch scheinbar willkürlich über die Hülle verteilt. Konkret heißt dies: Das Objekt ist an verschiedenen Stellen mit Bleistift beschriftet. Auffällig sind zunächst die oben im Deckelabschnitt vermerkten Notizen »Ossi« (hinten, Abb. 2) und »Nachlass Paul Franke«. Aus diesen und weiteren verschiedenen Notizen lässt sich ableiten, dass es sich vermutlich um ein »Mixtonband« handelt (in Analogie zum Mixtape), auf dem verschiedene Titel zusammengeschnitten wurden. Kombiniert wurden dabei entweder Schallplatten- oder häufig auch Radiomitschnitte. Um diese Nutzung von Leertonbändern entfaltet sich eine komplexe historische Sachlage, deren Darstellung sich im Folgenden zunehmend von dem konkreten Band 53 5011 entfernen wird, um sich vor allem auf die Herstellung von Musiktonbändern durch Jugendliche in der DDR zu konzentrieren.

Abb. 2: ​Die Rückseite der Agfa-Papphülle und die Notizen auf der Rückseite.
Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur

Ein wichtiger Schritt der Tonaufzeichnung war zunächst der Tondraht bzw. der Drahtton, wobei »Schallereignisse mit Hilfe [...] magnetisierter Stahlbänder« (Braun/Kaiser 1997: 167) aufgezeichnet wurden. Erstmals wurde diese Technologie 1900 auf der Weltausstellung in Paris von dem Dänen Valdemar Poulsen vorgestellt. In der deutschen Forschungslandschaft waren neben Elektrizitätsunternehmen wie AEG oder Siemens & Halske vor allem Einzelakteure aktiv, etwa Fritz Pfleumer, dessen Familie in den 1910er- und 1920er-Jahren durch eine Reihe von Patentverfahren und Entwicklungen in Erscheinung trat (vgl. Engel et al. 2013: 36 f.). Ab 1932 kam es zur Zusammenarbeit Pfleumers mit der AEG, die wiederum mit der I.G. Farben kooperierte. Unter dem Namen I.G. Farben hatten sich bereits 1925 acht große deutsche Chemiekonzerne – darunter Agfa und BASF – zusammengeschlossen, die bereits über Erfahrungen in der Herstellung photographisch-chemischer Speichermaterialien verfügten. Die Kooperation mit der AEG brachte die technische Geräteherstellung und die chemische Tonbandproduktion der BASF auf Grundlage des Pfleumer-Patents (DRP 500900A, Pfleumer 1930) zusammen: AEG Magnetophon und Magnetophonband Typ C der I.G. Farben. Im Verbund der Werke und Firmen, darunter auch das Agfa-Werk in Wolfen, wurde die Magnettontechnik stetig weiterentwickelt, wobei es immer wieder zu Konflikten und Patentstreitigkeiten kam. Die Unternehmen waren tief in die Gräuel des NS-Regimes verstrickt.            

Die hochwertige Aufnahmetechnologie der Deutschen hatte bereits im Zweiten Weltkrieg die Aufmerksamkeit der Alliierten auf sich gezogen. Nach dem Krieg machten die Alliierten die Studiotechnik und Bandfabriken ausfindig; so lieferte die Agfa ab 1948 aus Leverkusen neue Bänder (vgl. Holenstein 2001: 90), die Fabrik in Wolfen produzierte bereits ab März 1946 wieder (vgl. Bode 2008: 83). Das Tonband wurde nach dem Krieg schnell erfolgreich. Insgesamt kalkulierte man 1963 etwa mit 2,5 Millionen Geräten in Westdeutschland, wie die BASF schätzte (Trainer 1963: 69). Die BASF ging aufgrund persönlicher Korrespondenz mit ihrer Kundschaft von »150 Tonbändern und mehr« (ebd.) pro Person aus. Der Weltumsatz für Tonbänder läge bei etwa 400 Millionen D-Mark, »basierend auf den Fabrikabgabepreisen« (ebd.), wovon etwa die Hälfte der Produktion auf Nordamerika entfalle; neben Westdeutschland träten ansonsten vor allem Großbritannien und Frankreich als Produzenten in Erscheinung. Es existierte eine Vielzahl von Tonband-Geräteherstellern; die Anzahl der Firmen, die Leertonbänder zum Verkauf anboten, stieg vor allem im Übergang zu den 1950er-Jahren zunehmend an. [1]

Trotz der Vielfalt an Tonbandmarken überwiegt in den Sammlungen in Eisenach deutlich die Auswahl an rot-orangenen (oder schwarzen) BASF-Bandhüllen und grauen Agfa-Gevaert-Hüllen. In der DDR lag das Monopol für die Herstellung von Datenbändern, also Magnettonbändern, zunächst bei einem Agfa-Nachfolger, der VEB Filmfabrik Wolfen (vgl. Bode 2008: 84). 

Insgesamt war der Tonbandmarkt in den 1960er-Jahren zunehmend umkämpft und erforderte einen stetigen Ausbau der eigenen Unternehmensstrukturen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte der Agfa, von der auch das Tonband 53 5011 stammt. Als ehemaliges Mitglied der I.G. Farben lagen ihre Fabriken in drei Besatzungszonen (Camerawerk München, amerikanisch; Photopapierfabrik Leverkusen, britisch; Filmfabrik Wolfen, sowjetisch). Die Fabriken im Westen operierten nach verschiedenen Übernahmen und Vereinbarungen wieder gemeinsam. Bereits 1956 hatte man sich mit dem verbliebenen Werk in Wolfen, das als Staatsbetrieb der DDR weitergeführt wurde, nach Lizenzstreitigkeiten auf ein Warenzeichen-Abkommen verständigt. Wolfen produzierte von 1956 bis 1964 zunächst noch als VEB Filmfabrik Agfa Wolfen, danach unter dem Label Orwo (Original Wolfen; Bänder, die vor dieser Zeit produziert, aber nach dieser Zeit verwendet wurden, weisen deshalb häufig eine Schwärzung des Markennamens auf. Das eingangs diskutierte Entfernen des Deckels des Bandes 53 5011 wäre eigentlich nicht notwendig, könnte aber damit in Zusammenhang stehen).            

Das Band fällt in die Übergangsphase vom Tonband zur Musikkassette, aber auch in eine Zeit, in der in der DDR die Tonbandproduktion noch deutlich im Ausbau war. Die Musikkassette wurde 1963 von Philips erstmals vorgestellt, bediente sich derselben Magnetbandtechnologie und zielte auf ähnliche Nutzer*innen ab wie das Tonband. Die Kassette stellte ein mobiles Gegenstück zu den häufig schwereren Tonbandgerät-Aufbauten dar und sicherte sich ab 1968 (vgl. Röther 2012: 417) und vor allem in den 1970er- sowie den 1980er-Jahren mit dem Walkman wesentliche Marktanteile gegenüber dem Tonband, denn die Musikkassette war günstig, robust und leichter zu bedienen (kein Bandsalat, kein umständliches Einfädeln: vgl. ebd. 435) sowie individuell gestaltbar.

Abb. 3: Logo und Etikett einer 500m Spule aus dem Hause Agfa.
Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur

Der Tonband-Musikmarkt wurde bald nach seiner Etablierung zu einem juristisch umkämpften Schauplatz. Die westdeutsche Musikindustrie, etwa Musiklabels und GEMA, kritisierte, dass Radio- oder Schallplatten-Repertoire per Mitschnitt in den Besitz von Hörer*innen übergehen konnte, die prinzipiell mit diesen Musikstücken Handel und Tausch betreiben konnten. In Werbeanzeigen verwiesen die Gerätehersteller sogar konkret auf jene Passagen des geltenden Rechts, die Privatkopien für den ›persönlichen Gebrauch‹ erlaubten (vgl. Anonym 1953a: 26). Eine internationale Tragweite erreichte der Konflikt in den frühen 1950er-Jahren, als klassische Aufnahmen aus dem Radio aus West- und Ostdeutschland international verkauft wurden und damit ein günstiger Schwarzmarkt parallel zum das Schallplattengeschäft der Musiklabels entstand, wobei auch Rundfunkarchive ›ausgeschöpft wurden‹, wie der Stern recherchierte (Anonym 1953b: 26).

Nach jahrelangen Rechtsstreitigkeiten etablierte sich das System der Herstellergebühr: Der neu geregelte »Vergütungsanspruch« bedeutete, dass die Tonbandhersteller nun verpflichtet waren, fünf Prozent des Verkaufserlöses an die Verwertungsgesellschaft abzugeben (vgl. ebd.). Im Gegenzug blieb die Privatkopie erlaubt. In einer Ausgabe des Tonbandfreunds bewarb Grundig 1966 sein Cassetten-Tonbandgerät C100 mit dem Hinweis: »Überspielungen von Rundfunksendungen für den privaten Gebrauch« (Anonym 1966: 56).

Die DDR führte zunächst ebenfalls die Urheberrechtsgesetze und Verlagsgesetze von 1901 fort (vgl. Ulmer 1960: 58). 1956 wurde das Büro für Urheberrecht gegründet, dessen Aufgabe die Beratung und Betreuung in Urheberrechtsfragen war. Ab 1951 ersetzte in der DDR die Anstalt zur Wahrung der Aufführungsrechte (AWA) die GEMA. Das private Mitschneiden und Tauschen von Schallplatten und westlichen Radiosendungen auf Tonband unterlief die staatliche Organisation von Unterhaltungsangeboten. Während Schallplatten in ihrer Einfuhr kontrolliert werden konnten, war eine Kontrolle der Radioprogramme, und der durch sie möglichen Mitschnitte, kaum umsetzbar. Diese »inoffiziellen Publikationsformen« (Kuschel 2016: 278) wurden auch »Magnitizdat« genannt (die Tonträger-Variante des bekannteren »Samisdat«, womit in der Sowjetunion politik-kritische, »per Hand geschriebene, auf der Schreibmaschine getippte oder fotokopierte Texte« bezeichnet wurden; Amelina 2006: 166).

  infobox radiomitschnitte in der ddr

Während Tonbandgeräte wie das ikonische Grundig Koffertonbandgerät TK 9 in der BRD in den 1950er und -60er-Jahren bereits hunderttausendfach Verbreitung fanden, wurden die Geräte in der DDR zur selben Zeit erst nur in kleinen Margen ausgeliefert und kamen häufig eher über Verbindungen in die Sowjetstaaten in den Handel, erinnert sich der Jazz-Liebhaber Reinhard Lorenz:  

Es gab in Eisenach eigentlich nur ein ernstzunehmendes, wirklich großes Rundfunkgeschäft, alles andere waren kleine Radio-, Handwerker-, Technikerbuden [...]. Das [Tonbandgerät, LN] habe ich damals wirklich durch Beziehungen, auch meines Vaters, bekommen. [...] [I]ch habe damals als 14-Jähriger in einem oder mehreren Ferienjobs die doch raren Geräte, die es in den wenigen Geschäften quasi nur als Bückware gab, versucht zu erschwinglichen Preisen zu bekommen. [...] [M]ein erstes Gerät war ein tschechisches Zweispur-Tonbandgerät der Marke Tesla. (Lorenz 2019)  

Reinhard Lorenz wurde 1952 in Etterwinden bei Eisenach geboren. Er studierte in Leipzig und kehrte nach dem Studium nach Eisenach zurück, wo er zunächst am Theater und ab 1986 als Leiter des Kulturamtes tätig war. Bekannt wurde er international vor allem durch die künstlerische Leitung des Eisenacher Jazzclubs (ab 1986) und die Gründung des heutigen Lippmann+Rau-Musikarchivs im Jahr 1999 (zunächst International Jazz Archive Eisenach). In seiner Zeit als Jugendlicher ging Lorenz in den 1960er-Jahren auf erste Konzerte, beispielsweise von Louis Armstrong in der Erfurter Thüringenhalle 1965. Vor allem Musik aus dem Westen interessierte ihn und so begann Lorenz mit seinen Freunden im Gymnasium »Titel, Jazz vor allem, aber auch Rocktitel, auszutauschen, zu katalogisieren, zu dokumentieren, mit Infos, Zusatzinfos, zu versehen« (ebd.). Dahinter stand das »Bedürfnis nach einer anderen Welt« (ebd.) und eine »Sehnsucht nach Tönen, die mit Jazz, Rock und Blues zu tun hatten« (ebd.). »Trotz verordneter und überwachter Ideologie und Mauerbau gelang es dem Regime nicht, die Jugend von der westlichen Musik abzuschotten. Sie informierte sich bei Radio Luxemburg (Die großen Acht), RIAS Berlin (Schlager der Woche) und Radio Bremen (Beat-Club). Private Mitschnitte auf Tonband und Schallplattengeschenke aus dem Westen sorgten dafür, dass Jugendliche ihre Lieblingsmusik hören konnten« (Müller 2016: 316, Betonungen nicht übernommen). Das sogenannte ›Schwarzhören‹ von ausländischen Sendern bildete in der DDR »kleine Öffentlichkeiten« (Kuschel 2016: 14). Ausgetauscht wurden in verschiedenen Szenen nicht nur Themen und Inhalte, sondern vor allem auch »die Wege und Möglichkeiten, überhaupt bestimmte Sender sehen oder hören zu können« (ebd.).

Für die jugendlichen Szenen spielten Tonbänder zudem eine ähnliche Rolle wie Musikkassetten in den kommenden Jahrzehnten (vgl. Dossier Musikkassette). Zum Beispiel konnte der kommunikative Aspekt eines Mixtonbands eine Rolle spielen, wie Lorenz berichtet, denn »wenn meine liebe Evelyn krank war, [...] hab ich ihr ein Band geschnitten« (Lorenz 2019). In einer jugendlichen Musikszene, in der die internationale und vor allem westliche Musikwelt über Schallplattengeschenke aus Polen oder der Bundesrepublik nur bedingt erhältlich war, wurde »das Tonband [...] das Hauptmittel, Musik zu erfassen und zu sammeln« (ebd.). Hierbei ging es vor allem um die Vollständigkeit von Songs: »Wenn irgendwo ein Titel ausgeblendet wurde, dann hat man Jemanden gesucht, der den hatte. Dann hat man sich zusammengesetzt, [...] das Verbindungskabel zwischen die Geräte gesteckt und hat das genau geschnitten« (ebd.).

Abb. 4: ​Ein Aufnahme des jungen Reinhard Lorenz (rechts) mit Bluesbuddy Winfried >Soulwinne< Freyer (links), ca. 1975.
Foto: Privatarchiv, Reinhard Lorenz

Tonband-bricolage und private archivkulturen

Eine eher selten thematisierte Besonderheit der Tonbänder ist ihr ästhetisches Potenzial. Mit Blick auf die später populär gewordenen Musikkassetten wird dieses Potenzial unter dem Strauss’schen Begriff der Bricolage diskutiert. In diesem Kontext bezieht er sich auf das Zusammenfügen oder das (Zurecht-)›Basteln‹ von Song-Abfolgen einerseits und einer illustrierten Hülle andererseits und die Verbindung aller Bestandteile zu einem »Gesamt(kunst)werk« (Grösch/Hühners/Rützel 2005: 26). Die Gegenstände, mit denen gebastelt wird, sind dabei eine Ansammlung von »gesammelten Gelegenheiten« (ebd.: 28), die neu zusammengefügt werden. Häufig wird dafür der Begriff der ›Collage‹ bemüht und dieser findet auch bei Lorenz in dessen Beschreibung seiner Tonbandpraxis Anwendung. Obwohl die meisten Bänder in Eisenach in einer beschrifteten Papphülle verpackt sind oder sogar gänzlich ohne Beschriftungen auf Hülle und Band auskommen und ihnen mitunter nur ein Zettel beigelegt ist, erinnert sich Lorenz an aufwändig gestaltete Hüllen. Hier scheint sich eine partiell divergierende Handhabung von Jugendlichen auf der einen Seite und erwachsenen Musiksammler*innen auf der anderen Seite zu offenbaren: Einerseits werden die Tonträger als kommunikative und künstlerische Objekte behandelt (Ausdruck von Individualität, Originalität, Lebensstil, politischen Präferenzen etc.), anderseits fungieren sie als Sammlungsgegenstand. Denn insbesondere Hüllen, die als Geschenk gedacht waren, seien aufwändig gestaltet worden: »[D]ie [...] Bänder waren ja [...] präpariert, also man konnte da natürlich Informationen außen [ergänzen]. [...] [D]as äußere Cover, wenn man so will, das haben wir zum Teil, dann gerade bei diesen Best Of- oder Geschenkbändern [...] richtig zum kleinen Kunstobjekt gemacht« (Lorenz 2019). Die Techniken ähneln jenen, die später bei Musikkassetten populär wurden. Die Verzierungen der Hüllen waren dabei beispielsweise in Collagen, zum Beispiel aus Pressematerial, angelegt, die man ergänzte oder karikierte. Mitunter gestaltete man auch einzelne Buchstaben als Hingucker und designte dann eine Schrift um diese Buchstaben, »wie das auch ein bisschen an der Penne damals üblich war« (ebd.). Dass man den Hüllen ihren Aufwand, ihre Besonderheit, ansah, war explizites Ziel dieser Praxis und fügte sich auch mit der Ausstellung der Tonbänder als Musikobjekt im heimischen Regal. Für Lorenz war diese Form der Kunstanwendung durchaus auch ein implizites politisches Statement gegen die ›Einengung‹ individueller Entfaltung in der DDR: »Also was wirklich wichtig war, war, das Individuelle zu betonen, um sich vom Kollektiven abzuheben« (ebd.).

Das Tonband und seine Hülle boten hier einen kreativen Rahmen, der jedoch gleichsam organisational eingehegt wurde. Denn die Verzierungen und Songzusammenstellungen wurden ergänzt von zusätzlichen Papierordnern, die für die Tonbänder angelegt wurden und in denen die Tracklisten der Tonbänder und deren Quellen aufgeführt werden konnten. Lorenz verfügte dabei über mindestens vier verschiedene Formen von Tonbändern, für die er auch Listen anlegte: erstens Aufzeichnungen von Radiosendungen oder Platten (Ausgangsmaterial), zweitens genrespezifische Bänder (Blues, Jazz, etc.), drittens motivisch oder thematisch zusammengestellte Bänder (wie spätere Mixtapes) und viertens Tonbriefe mit einzelnen Titeln zum Austausch in der Szene. Insbesondere an Letztere knüpft sich die Bedeutung der Tonbandtechnologie in der Konstitution von Musikszenen und Gruppen, die hier abschließend kurz thematisiert werden soll.

versenden und tauschen – tonbänder als briefe

Das Versenden so genannter Brieftonbänder markierte eine weitere Nutzungsoption in Bezug auf das Tonband. Auf diese Weise konnten – nicht nur innerhalb der DDR – Radioprogramme als Mitschnitt über ihre Sendegebiete hinaus geteilt werden. In der BRD vernetzten sich ebenfalls Tonbandfreunde mit Amateurhintergrund, und zwar nicht nur über die Mitgliederverzeichnisse der Tonbandzeitschriften, sondern ab 1965 beispielsweise auch über eine eigens eingerichtete ›Kontaktstelle‹ in München (vgl. Keil 1965: 53). In der DDR konnten ORWO-Brieftonbänder aus Wolfen, wie in der BRD auch mit einer Papphülle mit Adressfeld und Platz für eine Briefmarke versehen, ebenfalls versendet werden. Der Versand dieser Brieftonbänder zwischen der DDR und der BRD war, zumindest in der Erinnerung von Zeitzeugen, anders als bei Schallplatten, jedoch nicht gestattet (vgl. eine Diskussion: Anonym 2013). [2]

Dies mag auch mit der bereits skizzierten Debatte um ›Raubkopien‹ oder andere Inhalte zusammenhängen, da diese Tonbänder nicht alle kontrolliert werden konnten (während Briefe bei der staatlichen Kontrolle der Postwege ›überflogen‹ werden konnten, hätten Tonbänder in ganzer Länge, häufig siebeneinhalb Minuten oder mehr, abgehört werden müssen). Die Voraussetzung für den postalischen Verkehr von Musiktonbändern in der DDR und im sozialistischen Ausland waren Plattformen und Orte, die der Vernetzung dienten. Dies waren einerseits vor allem die Konzerte, erklärt Reinhard Lorenz: »Die Orte reichten von Eisenach über Berlin, bis Prag, Warschau, also da wo, wo die Szenetreffs mit Ostbeteiligung waren [...]. Und da hat man sich aufeinander eingelassen« (Lorenz 2019). Ein anderes Forum bildeten die Jugendzeitschriften, Zeitungen und Rundfunksendungen, über die »ganz pragmatisch etwa über die Rubrik Kleinanzeigen« (Zaddach 2018: 172) andere Musik- oder Tonbandfans gesucht werden konnten. Gezielter, so Lorenz, ließ sich der Kontakt aber über Magazine herstellen, die selbst produziert und unter der Hand verteilt wurden. Dortige Anzeigen waren häufig explizit auf den Tausch von Tonbändern ausgerichtet, »so nach dem Motto: ich sammle Tonbänder, wollt ihr nicht mit mir tauschen« (Lorenz 2019). Seine eigene lokale Szene beschreibt Lorenz dabei als klar vom Hessischen Rundfunk und dessen Jazzprogramm geprägt. Abhängig von der jeweils zur Verfügung stehenden Technik, aber auch von den Wetterbedingungen (für den UKW-Empfang) bildeten sich so Inseln einer populärmusikalischen Jugendkultur, die allerdings mit anderen Gruppen vernetzt waren: »Dann hatte man den Kumpel in Plauen, oder was weiß ich wo, und der hat gesagt er schickt die [...] Sendung von XY: ›und du schickst mir dafür deine Swing-Party vom letzten Sonntag, die ich nicht kriegen konnte‹« (ebd.). Hinzu kam die Mobilität der jungen Hörer*innen in der DDR. So erinnert sich Lorenz an seinen »Freund Winne, der wiederum von Berlin nach Jena zog (oder Kahla), aber in Berlin [...] seine Verbindungsleute hatte« (ebd.). Bedingt durch die Lebensentwürfe der Jugendlichen und die Mobilität der Tonbänder als kleine, handliche Tonträger sei »richtig Bewegung in der Szene« (ebd.) gewesen. Mehr noch, die Radiosendungen ermöglichten einen Zugriff auf die Szenen in der BRD:

Das Radio war aber das Hauptkommunikationsmittel, also über das Radio habe ich Kontakte [...] vermittelt bekommen, die ich dann versucht habe zu nutzten – mehr oder weniger illegal. Also das Beispiel ist der German Blues Circle, Mitte der Siebzigerjahre gegründet [...] in Frankfurt. Die haben sich im Hessischen Rundfunk –Teens, Twens, Top Time hieß die Sendung – vorgestellt, [...] da bin ich natürlich total elektrisiert gewesen. [Ich] hab’ dann ’nen Brief geschrieben mit meiner kleinen Reiseschreibmaschine, [...] hab’ den einer Cousine meiner Frau mitgegeben, die in Frankfurt wohnte. Hab’ gesagt: Kann sie den in Frankfurt einstecken? Und dann hab’ ich Antwort gekriegt, also heißt der HR hat das weitergeleitet an die Typen und daraus sind ja die ganzen Beziehungen, die bis heute halten, entstanden. (Lorenz 2019)

Diese transnationalen Tonträger-Verkettungen, die bei kommerziell hergestellten und privat gekauften Schallplatten beginnen, welche im Fall von Lorenz wiederum über den HR ausgestrahlt wurden und dann auf Tonbändern in der DDR eine neue Aneignung fanden, zeigen, dass die Tonträgernutzung keineswegs ein Randthema in der deutsch-deutschen Geschichte markiert. Das Radio und der Briefverkehr bedingten in Verbund mit den spezifischen materiellen Eigenschaften der Leertonträger die Konstituierung neuer Szenen. Tonbänder substituierten nicht nur die populärmusikalischen »Defizite, die [...] natürlich in der DDR total da« (ebd.) waren, sondern wurden in ähnlicher Form in der Bundesrepublik eingesetzt und lassen sich damit heute als bemerkenswertes Moment jugendkultureller Identitätsbildung über den Eisernen Vorhang hinweg lesen.

Abb. 5: Handschriftliche Notizen auf einer Tonbandhülle.
Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur

DAS DOSSIER WURDE VERFASST VON LAURA NIEBLING.

Einzelnachweise

[1] Die BASF zählte im Jahr 1968 für eine Bestandsaufnahme des Marktes für Heimtonbandgeräte in ihren Technischen Informationen (Nr. 43) allein für Deutschland 24 Hersteller auf (vgl. Engel et al. 2013: 304). Die Tonbandmarken umfassten ein noch breiteres Sortiment deutscher und ausländischer Firmen wie 3M(/Ferrania), AEG, Agfa, Ampex, BASF, Braun, Fuji, Grundig, Maxell, Memorex, MPS/Saba, Olympic, Orwo, Permaton, Philips, Revox, Scotch, Shamrock, Sony, TDK, Teac, Telefunken, Uher, Universum und Xerox. Hinzu kommen beispielsweise im Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach heute diverse, nicht mehr identifizierbare Bandspulen im, die mitunter beispielsweise nur mit »N« (Neckermann?) markiert sind.
[2] In derselben Unterhaltung im Bandmaschinenforum wird auch noch eine vermutlich eher ungewöhnliche Nutzung thematisiert: Ein männlicher Zeitzeuge aus der DDR berichtete, dass er die kleinen Bänder für seine Auftritte in der Disco nutzte, da sie leicht und schnell zu wechseln waren (vgl. Anonym 2013).


Quellen

Literatur:
Amelina, Anna (2006). Propaganda oder Autonomie? Das russische Fernsehen von 1970 bis heute. Bielefeld: transcript.
Anonym (1953a). Lauscher an der Wand. In: Der Spiegel, 27.05.1953, S. 26–28.
Anonym (1953b). Klassiker zu Vorzugspreisen. In: Der Spiegel, 04.02.1953, S. 26–28.
Anonym (1966). Grundig Werbung, Cassetten-Tonbandgerät C100. In: Der Tonbandfreund 3/1966, S. 56.
Anonym (2013). »Briefband« / Tape Letter / Message Sonore BASF. <https://forum2.magnetofon.de/board2-tonbandgeräte/board16-alles-andere/15397-briefband-tape-letter-message-sonore-basf/> [04.10.2019].
Bode, Herbert (2008). Die Magnetbandfabrik Dessau. In: Dessauer Kalender 52/2008, S. 82–91.
Braun, Hans-Joachim/Kaiser, Walter (1997). Energiewirtschaft – Automatisierung – Information [Propyläen Technikgeschichte, Band 5]. Berlin: Propyläen.
Engel, Friedrich/Kuper, Gerhard/Bell, Frank/Münzner, Wulf (2013). Zeitschichten. Magnetbandtechnik als Kulturträger. Erfinder-Biographien und Erfindungen. 3. Auflage. Potsdam: Polzer.
Grösch, Julia/Hüners, Susanne/Rützel, Andrea (2005). »Mach mir ein Mixtape!« Das kleine Einmaleins der Kassettenproduktionen. In: Gerrit Herlyn und Thomas Overdick (Hg.), Kassettengeschichten – Von Menschen und ihren Mixtapes. Münster: Lit, S. 26–42.
Holenstein, Peter (2001). Die sprechenden Maschinen. Studer-Revox: das Lebenswerk des Audiopioniers Willy Studer. Zürich: Oesch.
Keil, Bodo (1965). Wie komme ich zum Bandaustausch mit Tonbandfreunden? In: Der Tonbandfreund 2/1965, S. 53.
Kuschel, Franziska (2016). Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser: Die DDR und die Westmedien. Göttingen: Wallstein Verlag.
Lorenz, Reinhard (2019). Interview mit Reinhard Lorenz, Eisenach 28.05.2019.
Müller, Siegfried (2016). Kultur in Deutschland. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Stuttgart: Kohlhammer.
Pfleumer, Fritz (1930). Lautschrifttraeger. DRP 500900A (26.06.1930).
Rindfleisch, Heinrich (1971). Magnetbandtechnik. Erklärung von Fachausdrücken mit einem Fachwörterlexikon. 7. Auflage. Leverkusen-Bayerwerk: Agfa-Gevaert AG.
Rose, Christoph (verm. 2017). Tonband Vorlaufbänder. <https://www.studerundrevox.de/info-wissenswert/wissenswert/tonband-vorlaufbaender/> [24.02.2020].
Röther, Monika (2012). The Sound Of Distinction. Phonogeräte in der Bundesrepublik Deutschland (1957–1973). Marburg: Tectum.
Trainer, Ludwig (1963). Die Tonbandindustrie in Deutschland und der Welt. In: Der Tonbandfreund 3/1963, S. 68–70.
Ulmer, Eugen (1960). Urheber- und Verlagsrecht. Berlin: Springer.
Zaddach, Wolf-Georg (2018). Heavy Metal In Der DDR. Szene, Akteure, Praktiken. Bielefeld: transcript.


Abbildungen

Abb. 1: Das Tonband 53 5011 mit Klebespuren im Bandverlauf und das grüne Vorspannband. BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur.
Abb. 2: Das Tonband 53 5011 mit der Agfa-Papphülle (Front). BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur.
Abb. 3: Die Rückseite der Agfa-Papphülle sowie Detailansicht auf das Herstellerlogo mit grünem Schriftzug. BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur.
Abb. 4: Ein Aufnahme des jungen Reinhard Lorenz (rechts) mit Bluesbuddy Winfried >Soulwinne< Freyer (links), ca. 1975. Privatarchiv, Reinhard Lorenz.
Abb. 5: Die Rückseite der Agfa-Papphülle sowie Detailansichten und die Notizen auf der Rückseite. BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur.