skyclad – the wayward sons of mother earth (1991)

Foto: BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur

vinyl-schallplatten und die metal-jugend auf dem lande

Das »schwarze Gold« hat Konjunktur – erstmals überholte 2019 der Umsatz von Vinyl-Schallplatten wieder die CD (Anonym 2019). Einen hohen Anteil an diesem Comeback haben vor allem Vinyl-Enthusiast*innen und Musikszenen. Die Heavy-Metal-Szene liefert das Beispiel, an dem im Folgenden Einblicke in die Bedeutung von Vinylschallplatten in den Biografien und den alltäglichen Musikpraktiken von Musikfans in den 1990er-Jahren eröffnet werden sollen. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über die Geschichte der LP-Technologie sowie einige begleitende Diskurse, etwa zu technologischen Prämissen wie High Fidelity, gegeben. Anschließend wird der spezifische Szenekontext entfaltet, innerhalb dessen LPs zirkulierten und in der Lebenswelt eines Sammlers resonierten.

Das Dossier ist in drei Abschnitte geteilt. Sie können es mithilfe der Buttons entweder chronologisch oder thematisch lesen. Eine Infobox zu Stereophonie und High Fidelity bietet zusätzliche Hintergrundinformationen.

die lp-schallplatte im detail

Abb. 1: Eine Seite der Vinyl-LP The Wayward Sons of Mother Earth.
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Die Hülle und Schutzhüllen: Die Schallplatte ist insgesamt dreimal verpackt. Sie steckt zunächst in einer ersten Papierschutzhülle, die auf einer Seite in Höhe des Labels ein rundes Loch aufweist (vgl. Abb. 2). Das Material ist grifffestes, weißes Papier, das gegen das Licht leicht transparent ist. Die zweite Verpackungshülle ist die etwas größere Papphülle, auf die auch das Artwork gedruckt ist. Die dritte Hülle, mit leichten Nutzungsspuren, ist eine nochmal etwas größere Schutzhülle aus durchsichtigem Plastik, wie sie vor allem von Sammler*innen genutzt wird (vgl. Abb. 2).

Beschriftung und Design: Auffällig ist die Fülle an Informationen und grafischen Details, zudem die ästhetische Konzeption der LP. Das Cover von The Wayward Sons of Mother Earth besteht aus einem grau-blauen Hintergrund, der an Steine aus Fantasy-Animationsfilmen und -serien der Zeit erinnert. Davor ist über die gesamte Größe des Covers ein im realistischen Stil gemaltes Emblem (oder Wappen) gelegt, das aus einem kreisförmigen keltischem Knotenmuster besteht, vor das ein doppelköpfiger Adler gelegt wurde, dessen Körper eine blau-goldene Brosche darstellt (vgl. Abb. 2). Die Flügel des Adlers gehen über in das ebenfalls blau-golden in Gravurschreibschrift entworfene Logo von Skyclad im oberen Teil der Platte. Die Rückseite der Hülle ist in einem grün-weißen Ton gedruckt und mit schwarzen Sprenkeln überzogen. Von ihr setzt sich erneut eine Rahmung aus keltischen Knoten, diesmal eher in einer Holzoptik, ab, die noch einmal das Logo und das Pergament mit dem Albumtitel rahmt (vgl. Abb. 2). Die verschiedenen Elemente verweisen vor allem auf die Ästhetik der animierten Fantasy-Filme und -Serien der 1980er-Jahre, von den Farben und Zeichenstilen bis zu den damit angedeuteten Materialien: Federn, Knochen, Holz, Stein, Gold und Pergament. Sie stehen für eine eigentümliche Verquickung von fantastischen und naturalistischen Darstellungen, die auch im Albumtitel angedeutet wird.

Das Artwork des Albums stammt vom Musikjournalisten Gary Sharpe-Young und dem Zeichner Stuart Dilley, als Teil des britischen Designstudios The Alchemy Carta (das Logo, ein eingekreistes »A«, findet sich im Emblem auf der Vorderseite). Die Band trägt im Bandfoto Metallschmuck, der vermutlich aus den Alchemy-Schmuck-Kollektionen stammt. Die Metal-Ästhetik weist hier über das Albumcover hinaus und wird hier im Kontext einer heidnisch konnotierten Fantasy-Begeisterung der 1980er-Jahre inszeniert, wie sie sich auch in Filmen und Fernsehserien fand.

Als letzter Baustein der Gestaltung findet sich in der Hülle ein weißes Papier, das Insert, das beidseitig bedruckt ist und alle Songtexte enthält, wobei das Cover wieder aufgegriffen wird und sehr unterschiedliche Schriftarten und -größen verwendet werden.

Abb. 2:​ Die LP in ihren verschiedenen Hüllen.
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Die 12’’Vinyl-LP mit 33 Umdrehungen pro Minute (rpm) kam 1948 ›offiziell‹ auf den Markt, fußte aber bereits zu diesem Zeitpunkt auf Entwicklungen, die weit in die Vergangenheit zurückreichten. Beispielsweise die Schellackschallplatte wurde mit einem Sekret der Lackschildlaus (Kerria lacca) hergestellt und war damit an bestimmte Produktionsmengen und geopolitische Konstellationen gebunden. Die Einführung von Polyvinylchlorid (PVC) als Musikträger-Feststoff im Jahr 1948 lässt sich auf die Plattenfirma Columbia Records zurückführen. Die Firma schloss damit an frühere Versuche des Konkurrenten RCA Victor an, der 1931 bereits versucht hatte, Kunststoff-Langspielschallplatten mit Mikrorille kommerziell zu lancieren. Eine wichtige Rolle in der Entwicklung spielte der RCA-Victor-Manager Edward Wallerstein, der 1939 zu Columbia Records ging und dort mit seinem Team die Vinyl-LP weiterentwickelte. Auf der Grundlage des Klassikkanons legten sie eine Spiellänge von 17 Minuten pro Seite fest. 1948 erschien die erste LP mit 12’’ und 33 1/3 rpm, eine 25-minütige Aufnahme von Mendelssohns E-Moll-Violinkonzert (die Columbia bereits 1945 auf 78er-Schellack veröffentlicht hatte, vgl. Morton 2008: 49). Sie besteht aus einem 11-minütigen Stück auf der A-Seite und zwei Stücken mit zusammen etwa 13 Minuten Länge auf der B-Seite. Bereits 1943 hatte die hausinterne Abteilung für populäre Musik mit The Voice of Sinatra eine Wiederveröffentlichung auf 10’’ herausgebracht – das etwas kompaktere Format wurde zunächst parallel angeboten, schließlich jedoch zugunsten der 12’’ und der Schallplatten mit Stereo-Sound aus dem Angebot genommen (vgl. Weissmann 2003: 39). Insofern bezeugt die Entwicklung hin zur LP mit Mikrorille an verschiedenen Stellen, wie fragmentiert und unvorhersehbar der Musikmarkt auf dem Weg zu neuen Schallplattenformaten war. 

Die Langspielplatte verband mehrere Produktmerkmale, die in den Vorgängermodellen nur vereinzelt anzutreffen waren. Sie besaß die Widerstandsfähigkeit und Unzerbrechlichkeit, die auch Vinyl-Singles auszeichneten, und war aufgrund ihres Materials zudem erheblich leichter als Schellack sowie billiger und einfacher zu lagern (vgl. Rojek 2011: 186). Das Material PVC ermöglichte zudem eine langsamere Abspielgeschwindigkeit von 33 rpm (im Vergleich zu 78 rpm beim Schelllackformat), was bis zu 20 Minuten Spielzeit pro Plattenseite ermöglichte (vgl. Tschmuck 2003: 130) – also in etwa auch die Länge, die The Wayward Sons of Mother Earth pro Seite hat. Die ersten Präsentationen des neuen Tonträgerformats am 20. Juni 1948 betonten zunächst den fühlbaren Materialwandel: Musikstücke wurden vergleichend auf Schellack und Vinyl präsentiert, mit dem Ziel die Reduktion des Materialumfangs eindrucksvoll in Szene zu setzen. Hierzu wurden im Waldorf-Astoria zwei Stapel Platten im Vergleich präsentiert – der eine, 325 Schellackplatten, hatte eine Höhe von über 2,40 Meter, der andere mit derselben Menge Musik war nicht ganz 40 cm hoch (vgl. Osborne 2016: 91). Zudem wurde die Länge der Rillen in Tonband illustriert, indem man die Schallplatte auf ein angehäuftes Band von insgesamt 1,2 km Länge legte (vgl. Anonym 1948: 39). Dieser optisch nachzuvollziehende Vergleich mit angeschlossenem Hörtest – bei Schellack mit Pause zum Umdrehen, bei der Vinylschallplatte ohne – wurde von Wallerstein selbst und seinem Chefingenieur Peter Goldmark moderiert und zielte darauf ab, die klare Überlegenheit des neuen Formats zu betonen.

In der Frage der Qualität errang RCA Victor mit seinem Single-Format Ende der 1940er-Jahre allerdings zunächst noch einen kurzen Überraschungserfolg. Die 7’’-großen Schallplatten aus Vinyl verfügten ebenfalls über eine Mikrorille, liefen allerdings mit 45 rpm. Obwohl Columbia die LP-Technologie nicht hatte patentieren lassen, um sie möglichst breit zu lancieren, und obwohl diverse großen Labels bereit waren, auf LPs umzusteigen, investierte RCA noch einmal fünf Millionen US-Dollar in eine Werbekampagne für ihr eigenes Format. So wurde »den Konsumenten weisgemacht, dass für die Unterhaltungsmusik der 45rpm-Standard der bessere sei« (Tschmuck 2003: 130), was der Single »zu ihrem verspäteten Erfolg« (ebd.) verhalf. Die Single wurde damit zunächst zum Standard für Popmusik, während die Langspielplatte zunächst nur für Klassik genutzt wurde (vgl. ebd.). Allerdings erwies sich die Länge dieser Tonträger als passend für Konzert- und Liveaufnahmen (vgl. Osborne 2016: 99) und Sinatra war ein wichtiger Künstler, der bereits in den 1950er-Jahren themenorientierte LPs veröffentlichte (vgl. ebd.: 98 f.). Seine Alben erschienen auch in den separaten Singlecharts und erweiterten die Bedeutung der Langspielplatte für die Popmusik (vgl. ebd.), die nämlich zunehmend den Markt für »longer works and collections« (Langlois/Robertson 1995: 84) für sich beanspruchte. Der Wettbewerb zwischen RCA Victor und CBS Columbia, der als Formatkrieg, als sogenannter ›Battle of the Speeds‹, in die Musikgeschichte einging, wurde von den neuen Abspielgeräten unabhängiger Hersteller umgangen, indem die Möglichkeit geboten wurde, alle Formate abspielen zu können (vgl. ebd.). Im Verlauf der 1960er-Jahre wurden Vinyl-LPs in Stereoqualität zunehmend zum »financial backbone of the music business« (Rojek 2011: 186).

Das Ende der Vinyl-Schallplatte als wichtigstem physischem Tonträger kam in den 1980er-Jahren, als die Musikindustrie die Compact Disc als Nachfolgemedium für das Albumformat propagierte. Nicht nur das vorliegende Objekte, das Album The Wayward Sons of Mother Earth, sondern auch die mit ihm verbundene Analyse des Musikgebrauchs in einer ländlichen Region in Nordbayern zeigt allerdings, dass sich die CD zu Beginn der 1990er-Jahre noch keineswegs allgemein durchgesetzt hatte.

  infobox stereophonie und ​»high fidelity«-klang

Der ›neue‹ Sound bildete einen weiteren wichtigen Werbebaustein der Vinylgeschichte. Die Besonderheit der neuen Tonträger war die akustische Bandbreite, die ab den 1950er-Jahren von der Musikindustrie breit beworben wurde (vgl. Théberge/Devine/Everett 2015a: 2). Hierbei verbanden sich zwei Stränge der Tonträgergeschichte und eine akustische Innovation miteinander: magnetische Tonbänder in den Studios, die LP-Schallplatte für den Heimmarkt und Stereo-Sound bildeten die Grundlage für die ›High Fidelity‹ (vgl. Schmidt-Horning 2013: 104). Stereophonie lässt sich verstehen als »set of relations between audio technologies, acoustic spaces (physical and virtual), listening techniques, scientific and commercial discourses, economic conditions, and reception contexts« (Théberge/Devine/Everett 2015a: 3). Erste Experimente zum musikalischen Stereosound begannen Ende der 1940er-Jahre, und erste Implementierungsversuche, wie bei Columbia um 1954, fanden zunehmend Beachtung (vgl. Schmidt-Horning 2013: 104). Bereits um 1958 umfassten Stereo-LPs fast 70 Prozent des US-amerikanischen Tonträgermarkts (vgl. Weissmann 2003: 39).

Grundlage für den Stereosound im Musikbereich war eine neue Technologie zur Beschriftung der Schallplatten. LPs verfügen über eine Mikrorille, in die im Vergleich zu den Rillenformen davor mehr Information auf schmalerem Raum geschnitten werden konnte. Grundlage für die Mikrorille war das Material Vinyl, auf dem dreimal feinere Schnitte als auf Schellack möglich waren. Zudem erlaubten die feineren Schnitte eine bessere »frequency response« (McCourt 2015: 90), also ein optimiertes Verhältnis von Ein- und Ausgangssignal. Das Verfahren entstand in der Weiterentwicklung und Verbindung verschiedener Schneideverfahren – von Edisons ursprünglicher Tiefen- über Berliners Seiten- bis zu Alan Dower Blumleins Flankenschrift (vgl. Worgull 2009: 6). Mit ihr ließen sich Mono- und Stereoplatten schneiden und auslesen, was zunächst vor allem bedeutsam war, um alte Platten und neue mit denselben Geräten weiternutzen zu können.

Für die Verbreitung des neuen LP-Standards wirkte sich auch die Vermarktung unter dem High Fidelity- (kurz: HiFi)-Begriff positiv aus; ab Mitte der 1960er-Jahre war ein breites Interesse an »HiFi- und stereofähigen Geräten« (Röther 2011: 195) festzustellen, die begleitet wurde von einer Fachdiskussion in einer kleineren Nischengruppe von Klangenthusiast*innen.

Die deutsche Schallplattenindustrie war nach dem Krieg zerstört. Die »Produktionsstätten der EMI sowie der deutschen Tonträgerfirmen« (Tschmuck 2003: 150) waren nach 1945 nicht produktionsbereit. Die Deutsche Grammophon, das größte deutsche Label und ein wesentlicher Akteur auf dem Klassikmarkt, konnte allerdings bereits im Juni 1945 mit einer Sondergenehmigung Teile des Presswerks in Hannover wieder in Betrieb nehmen, wenn auch der Verkauf an die Zivilbevölkerung zunächst untersagt war (vgl. ebd.). Im Jahr 1951 führte die Deutsche Grammophon auf der Deutschen Funkmesse erstmals einen Teil des Katalogs auf Vinyl-LP vor (vgl. Jansen 2013: 109). 1958 erschien in Deutschland die erste Stereoschallplatte (vgl. Schewe 2008), nicht ganz ein Jahr nachdem in den USA Audio Fidelity Records die erste Massenproduktion einer Stereo-LP begonnen hatte (vgl. Théberge/Devine/Everrett 2015b: 269).

Eine Vertriebsform, die in Teilen vermutlich den US-amerikanischen Schallplattenclubs entlehnt war und die zur Verbreitung der Vinyl-LP in Deutschland erheblich beitrug, waren die Lesezirkel des Medienunternehmens Bertelsmann, das ab 1956 einen eigenen Schallplattenring anbot und bald 300.000 Abonnent*innen erreichte (Gilson 2010: 344). Das Wachstum des Marktes hielt an und in der Folge differenzierte er sich weiter aus: Unabhängige Presswerke, ein sich formierender Musikhandel (von Schallplattenboutiquen bis hin zu Kaufhäusern mit Musiksektion) und kleinere Musiklabels begannen auf dem Markt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wachsende Rolle zu spielen. Langspielschallplatten wurden in den 1970er-Jahren in Deutschland zur wichtigsten Form des Konsums populärer Musik. Im Jahr 1978 wurde mit 64 Millionen Schallplatten der »Höhepunkt des Schallplattenabsatzes in Deutschland« (Schramm/Spangardt/Ruth 2017: 11) erreicht. Die LP blieb in der Folge noch ein bedeutender Tonträger, musste aber zunehmend mit der Musikkassette und später der Compact Disc konkurrieren. Mit der Markteinführung der Musikkassette kam ab 1963 eine Tonträgertechnologie auf, die vor allem als Bestandteil jugendlicher Lebensstile in den folgenden Dekaden Relevanz erlangen sollte (vgl. Fruth 2018: 97). Für die Musikrezeption in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnete sich dabei ein Nutzungsform ab, in der Schallplatten auf Musikkassetten kopiert wurden und so Musikkonsum in breiterem Umfang möglich wurde.

Für ein Verständnis der kulturellen Bedeutung von Schallplatten in alltagsweltlichen Hörzusammenhängen und Szenen lohnt sich (ebenso wie bei Tonbändern und Musikkassetten) ein Blick auf die jugendlichen Konsument*innen. Das Musikobjekt Langspielschallplatte wurde in der BRD wie in der DDR gekauft, gehört, getauscht, gesammelt, auf Tonband oder Kassette kopiert und in diesen medialen Erscheinungsformen weiterverbreitet. Doch wie gelangten die Schallplatten in die Szenen? Hierzu wurde ein Gespräch mit dem Besitzer der LP The Wayward Sons of Mother Earth geführt, einem zum Zeitpunkt des Interviews 40-jährigen Musikfan (*1979) aus der nördlichen Oberpfalz. Die Kleinstadt, aus der der interviewte Heavy-Metal-Fan (im Folgenden: MF; zitiert als Anonym 2020)[1] kommt, hat etwa 6.000 Einwohner und liegt eine Stunde von Nürnberg und etwa zwei Stunden von München entfernt. In Nürnberg und München befand sich mit World of Music jeweils ein wichtiger Musikladen, den der Teenager Anfang der 1990er-Jahre gelegentlich an Wochenenden mit seiner Familie besuchte. Zudem spielten das Netzwerk im Ort, Musikkassetten zuhause und der Mailorder-Katalog im Schulbus eine wichtige Rolle für das Entdecken, Hören und Verbreiten von Musik. Eine Hürde für die Beschaffung von neuen Schallplatten war die fragmentierte Informationslage, der sich Musikfans in den frühen 1990er-Jahren trotz einer Vielzahl von Medienangeboten weiterhin gegenübersahen. Insbesondere im Metal-Bereich und seinen eher im nicht kommerziellen »Underground« (Berger 1999: 313) verorteten Spielarten waren deshalb Musikmagazine eine wichtige Quelle – hinzu kamen persönliche Netzwerke, wie auch im Fall von MF. Ausgangspunkt für den Kauf war zunächst eine Musikkassette, die er sich um 1990 von einem älteren Cousin geliehen hatte. Der Cousin hatte eine Compilation-LP des Magazins Metal Hammer kopiert, auf der für den jungen Metal-Fan ein Song herausstach: »Wie ich das das erste Mal gehört habe, hat es mich komplett schockiert erstmal, weil ich vorher so was Hartes noch nie gehört hatte. Und zwar war das von Sabbat, eine englische Thrash-Metal-Band [...] [D]as [Lied] war von der Produktion, vom Sound und vor allem von der Stimme total krass« (Anonym 2020). Er kopierte zunächst den Song und kaufte dann im World of Music in München die Platte von Sabbat, die ihn ebenso begeisterte wie der einzelne Track. Sie enthielt ein großes Booklet, was er »zu der Zeit so auch noch nicht kannte, mit den ganzen Texten und so« (ebd.). Das Booklet habe er dann »mehr oder weniger auswendig gelernt und mich Sonntagabend an die Heizung gesetzt und die Texte dazu gelesen« (ebd.). Die Ornamentalästhetik des Covers sowie die Schminke und Kostüme der Musiker hätten ihn dabei besonders beeindruckt, »denn es war genau das Fantasy-mäßige und Heidnische, auf das ich in dieser Zeit mit zwölf Jahren gestanden habe« (ebd). Etwa um den Jahreswechsel 1991/92 las er im Metal Hammer, dass die Band sich aufgelöst hatte – ein letztes Album war bereits ohne den Originalsänger veröffentlicht worden. Später stieß er in einer Rezension im Metal Hammer auf die Band Skyclad, einer 1990 gegründeten Band, die Einflüsse aus Folk und Thrash Metal verband – und der Name des ursprünglichen Sabbat-Sängers, Martin Walkyier, fiel ihm auf. Er sucht im World of Music in Nürnberg nach der aktuellen Platte A Burnt Offering for a Bone Idol (1992), kaufte dann allerdings aus Kostengründen zunächst das Debütalbum The Wayward Sons of Mother Earth.

Der Zugang zum Objekt, der sich hier zeigt, enthält einige markante Elemente, die nachfolgend genauer betrachtet werden sollen. Diese Art der ›Schnitzeljagd‹, die über einzelne Rezensionen und Werbeanzeigen in Special-Interest-Zeitschriften oder Danksagungen auf LP-Covern zu weiteren Käufen führte, basierte auf der Verbindung von zwei Tonträgerformaten: Schallplatte und Musikkassette, die in verschiedenen Situationen gekauft und getauscht wurden.

Die frühe Geschichte der Plattenläden im Nachkriegsdeutschland wurde bereits am Beispiel der Schellackschallplatte diskutiert. Nunmehr soll es vor allem am Beispiel der Kette World of Music um die Weiterentwicklung der spezialisierten Nischenläden hin zu großen Tonträgerfilialen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehen. Im Zuge des wachsenden Tonträgermarktes begannen Kaufhäuser, populäre Musik ins Angebot aufzunehmen. Bereits vor den Weltkriegen waren in vielen Städten Kaufhäuser entstanden und im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden die »Warenhäuser [...] Orientierungspunkte inmitten der boomenden Metropolen« (Gunkel 2009). Der Umsatz der Tonträgerindustrie stieg in Deutschland von 1985 bis 1994 »von 12,25 Mrd. Dollar auf 35,53 Mrd. Dollar« (Wolff 2002: 25). Die zehn größten Anbieter von Unterhaltungselektronik – darunter Media Markt, Saturn Hansa, WOM oder Virgin-Retail – erwirtschafteten 1992 über die Hälfte des Tonträgerumsatzes und erweiterten ihr Angebot zunehmend auch in kleinere Städte (vgl. Lüftner 1993: 23). Ihre Abteilungen boten ein breites, genreübergreifendes Angebot, in dem auch Metal-LPs angeboten wurden. Als sich traditionelle Kaufhäuser in den 1980er-Jahren mit zurückgehenden Umsätzen konfrontiert sahen, versuchten sie, die ›Spezialdiscounter‹ für Unterhaltungselektronik in ihr Angebot zu integrieren (vgl. Anonym 1985: 60). Eine der wichtigsten deutschen Kaufhausketten, Hertie, kaufte sich 1987 mit 50 Prozent beispielsweise in die Musikhandelskette World of Music ein und ersetzte in einigen Kaufhäusern die eigenen Musikabteilungen durch WOM-Filialen, bis im Zuge der Übernahme Herties durch Karstadt 1994 das Modell sukzessive wieder aufgelöst wurde. Die Zeit, in der der junge Metal-Fan einkaufen ging, markierte eine der Hochzeiten dieses Ladentyps, wie ein Artikel zur Eröffnung des siebenten deutschen WOM am Kölner Neumarkt 1987 umriss. Dort bot sich »im Souterrain des Hertie-Hauses« (Freese 1987) ein Einkaufserlebnis auf 1300 Quadratmetern, mit einem »Riesensortiment von Schallplatten, Musikkassetten und Compact-Discs« (ebd.). Das Unternehmen WOM war ursprünglich 1982 von Klaus Szepanik gegründet worden. Es hatte bis 1987 ein Netz von sieben Filialen in deutschen Städten aufgebaut und wies 1986, im Jahr vor der Übernahme, einen Umsatz von 52 Millionen Mark aus (vgl. ebd.). Ab 1985 (und bis 2009) verlegte die Kette ein eigenes kostenloses WOM Journal für aktuelle Musik, das mit dem Werbeaufdruck »Deutschlands meistgelesene Musikzeitschrift« warb. Die Innenarchitektur der WOM-Filialen kam einer überdimensionierten Schallplattenbar gleich. Regalreihen mit Musik bestimmten den Raum – »man hatte eine Schallplattenabteilung ›Metal‹ und eine CD-Abteilung ›Metal‹, und Kassetten gab es auch noch« (Anonym 2020). Meist stand mittig ein Tresen mit »Kopfhörerstationen, wo man die Scheibe auflegen lassen und reinhören konnte« (ebd.). Die Läden besuchte der Jugendliche zunächst, wenn er mit seinen Eltern am Wochenende in die Stadt fuhr. Später, als er etwas älter war, kaufte er sich mit Freunden ein regionales Sparticket für den Zug, wobei sich die Planung der Besuche lohnte, denn »je mehr wir waren, desto billiger war es« (ebd.). Die gemeinsame Fahrt führte sie in Nürnberg zum WOM und war mit Blick auf das monatliche Taschengeldbudget von 50 DM gut geplant. Die Kaufentscheidung hing davon ab, was man für diese 50 Mark bekam: »Da musste man dann kalkulieren« (ebd.). Für den MF bedeutete dies in der Regel eine oder zwei Sonderangebotsplatten für jeweils 10 Mark und eine Neuerscheinung für 20 Mark: »Dann hat man noch 10 Mark gehabt für einen Whopper am Bahnhof und das waren unsere Samstage« (ebd.).

Im WOM trennten sich die Jugendlichen und jeder suchte die Musik, für die er sich am meisten interessierte. Im Geschäft lief man »der Reihe nach die Abteilungen« (ebd.) ab, um zu schauen »was es alles Neues gibt, bzw. gab es alte Platten, über die man gelesen hat, waren die vielleicht im Sonderangebot und so« (ebd.). Die Praktik des Einkaufens vor Ort war wesentlich bestimmt vom »Außenseiter«-Status der jugendlichen Käufer*innen (ebd.). Die jungen Metal-Fans waren jünger als die meisten Käufer*innen und zudem nicht aus der Stadt, so dass sie niemanden persönlich kannten: »Wir haben uns da nicht so wirklich an diese Abhörtafel hin getraut […], weil da die Älteren gestanden sind und dann musste man den Plattenverkäufer ansprechen und der hat sich dann gedacht: ›Was will jetzt dieser Zwölfjährige da, der kauft ja eh nichts‹« (ebd.). Es kam deshalb häufig zu »Blindkäufen« (ebd.), sodass sie andere Kriterien für den Kauf von Schallplatten entwickeln mussten und die Einkäufe vorher vorbereiteten. Ein wichtiges Kriterium waren Listen, die aus den Rezensionen der Musikzeitschriften, »beispielsweise vom Metal Hammer« (ebd.) und den Grüßen, Danksagungen und Werbeblättern in anderen Schallplattenbooklets zusammengestellt wurden. Diese Listen mussten sich der Logik beugen, dass von seinem »Taschengeld maximal zwei Veröffentlichungen pro Monat« (ebd.) gekauft werden konnten. Er habe deshalb »priorisieren müssen, das heißt, ich musste eine Reihenfolge erstellen« (ebd.). Mit den Listen sei er dann in die Läden gegangen und »[ich] habe dann geschaut, was alles da war und habe versucht, es der Reihe nach zu kaufen« (ebd.). Ein zweiter wesentlicher Faktor seien die Cover gewesen, die dazu beitrugen, dass Platten häufig ohne Hörprobe gekauft wurden. Dies sei eine Gratwanderung gewesen zwischen Themen, die ihm in dem Alter gefallen hätten und solchen Coverartworks, von denen er annehmen musste, dass seine Eltern sie verbieten würden (vgl. ebd.).

Eine zweite wesentliche Bezugsquelle für jugendliche Musikfans auf dem Land waren im Verlauf der 1990er-Jahre auch die Versandkataloge, vor allem, weil die Preise bei WOM erheblich höher waren als jene des Versandhandels. In Deutschland vertrieb unter anderem das Unternehmen EMP Merchandising 1986 einen Katalog mit einem wachsenden, auf musikalische Jugendszenen ausgerichteten Sortiment an Musik und Merchandise. Es richtete sich gezielt an die Metal-Szene mit einer Illustration der in der Szene populären Handgeste der ›Devils Horns‹ im Logo (vgl. Kosic 2011: 112). MF erinnert sich, er habe EMP allerdings »frühestens Mitte der 90er wahrgenommen, 93/94 vielleicht« (Anonym 2020). Zuvor hatte vor allem der Katalog des Disc Center erhebliche Bedeutung, damals ein Musikversandhandel aus Weikersheim (1969–1999). Vor allem an sein Format, »A5, die Seiten aus super-dünnem Butterbrotpapier, aber trotzdem mega-dickes Teil« (Weh 2009), erinnert sich ein Musikfan. Auch MF hat in Erinnerung, dass der Katalog »immer dicker geworden ist und ich glaube, irgendwann hatte den jeder so im Briefkasten« (Anonym 2020). Der Haupteinsatzort des Katalogs war für manche das Klassenzimmer, wo er unter den Schulbänken durchgereicht wurde (vgl. Osthus 2008). Für den jungen Metal-Fan war es aber vor allem der Schulbus, da dort »meistens einer, der zwei Klassen über einem« (Anonym 2020) war, die Bestellung aufgenommen hat. Der Katalog wurde dazu »im Schulbus rumgereicht [...] mit einer Liste, da konnte man sich eintragen mit der Nummer; Katalognummer und der Band, dem Namen, was man haben wollte« (Anonym 2020). Die Besonderheit war der Preis. Vor allem im Vergleich zu WOM hatte der Katalog »super Sonderangebote. Für 49 Pfennig konnte man da eine Single kaufen. Da habe ich meine erste Single gekauft mit 10 Jahren oder so« (ebd.). Auch Langspielplatten waren mit teilweise nur 2,99 DM erheblich günstiger als im Fachhandel (vgl. Osthus 2008). Hinzu kam ein System, das Sammelbestellungen mit Gratisbeilagen belohnte, weshalb dies viel gemacht wurde und entsprechend ein großer Austausch über Musik bestand.

Auflegen: Während die 45er-Singles in Musikboxen gespielt oder zu Partys mitgenommen werden konnten, war die Vinyl-LP Manifestation einer stationären Hörpraxis, die erheblich mit der Erfahrungswelt des eigenen (Jugend-)Zimmers oder des eigenen Hauses verbunden war. Mit der LP als Unterhaltungsgegenstand wurde gar eine neue Form der Heimunterhaltung verbunden, die»etwas Zeremonielles« (Schewe 2008) hatte. Aus der heutigen Perspektive beschreibt die Journalistin Sonja Schewe das Hören einer Schallplatte als quasi-sakrale Handlung, die keine Zeit ließe für Handlungen nebenher, denn »das Medium verlangt eine Auszeit vom Multitasking« (ebd.) Zunächst erfolge ein vorsichtiges Entpacken, dann würde »die schwarzglänzende Scheibe auf den Plattenspieler gelegt wie eine Opfergabe auf den Altar« (ebd.).

MF nahm die Schallplatte als »alltäglich« wahr, mehr als es heute etwa bei limitierten Sonderpressungen der Fall ist. Man habe sich einfach mit dem gekauften Gegenstand intensiv »auseinandergesetzt« (Anonym 2020). Er habe sich vor der Stereoanlage seiner Eltern hingesetzt und habe die Platten gehört, manchmal dieselbe Platte einen ganzen Nachmittag lang. An The Wayward Sons of Mother Earth erinnert er sich dabei bewusst, er habe es »wochenlang am Stück gehört« (ebd.) und allein am Kauftag etwa vier bis fünf Mal: »Vor allem auf der zweiten Seite das Lied Moongleam and Meadowsweet, das habe ich rauf und runter gehört« (ebd.). Sowie ihm einzelne Songs besonders gefallen haben, war an eine andere Beschäftigung nebenher nicht mehr zu denken: »[M]an hat dann immer die Nadel zurück, hat die Rille gesucht und hat dann die Nadel heruntergelassen und dann hat das Lied nochmal von vorne angefangen« (ebd.). Die Begeisterung zeigt sich auf der Platte in der Tat durch flache seitliche Kratzer um die Tonrille des Songs.

Anschauen: Auch die Rolle des Artworks für den Musikkonsum wird in Studien immer wieder thematisiert. Die großflächigen Bilder sind Bestandteil des »perceived material value and appeal« (Bennett/Rogers 2016: 31) jener sich entlang der Vinylschallplatte entspinnenden »aesthetic discourses of authenticity and coolness« (ebd.), die auf Sound, Haptik und Verpackung Bezug nehmen. Sie bilden damit einen wesentlichen Bestandteil der ›Aura‹ der Tonträger (vgl. ebd.: 32). The Wayward Sons of Mother Earth gefiel dem Metal-Fan vor allem, weil sie Verweise auf Filme und Populärkultur der Zeit enthielt. Der Gestalter des Plattencovers, Axel Steinweiss, hatte bereits von Beginn an klare Vorstellungen hinsichtlich der Nutzung seiner beigefügten Kunst: »Ich wollte, dass die Menschen das Artwork betrachten, während sie der Musik zuhören« (zit. in Maack 2009).

Mitlesen: Die räumliche Verteilung des neuen Stereo-Sounds der LP, argumentiert Evan Eisenberg (2005: 53), habe großen Anteil an dieser Praktik, da nun ein neuer Fixpunkt für die Aufmerksamkeit notwendig geworden sei, den eine Schallplattenhülle bieten konnte. Diese Form der Nutzung bestätigt sich nicht nur in den Befragungen der Sammler*innen, sondern auch im konkreten Fall des Metal-Fans aus Bayern: »Ich habe mich immer mit dem Rücken an die Heizung gesetzt im Herbst und im Winter und habe dann die Platte abgespielt und die Texte dazu gelesen« (Anonym 2020). Die Größe und damit die Lesbarkeit der abgedruckten Songtexte ist für diejenigen Hörer*innen, die Tonträger gezielter sammel(te)n, wichtig; zudem betonen die abgedruckten Texte die ›Seriosität‹ der Musik als literarische Kunstform (vgl. Shuker 2010: 69 f.). Beide Aspekte spiegeln sich in der Gestaltung und der Nutzung von The Wayward Sons of Mother Earth: Der Metal-Fan las die Texte beim Hören der Langspielplatte mit, und »[w]enn mich Texte besonders beeindruckt haben, habe ich mir Notizen dazu gemacht« (Anonym 2020). Die Texte spielten also eine wichtige Rolle für das Musikerlebnis. Zudem wurden Albumcover und -verpackung selbst zum Baustein eines populärkulturellen Wissens, über das auch die szenerelevanten Magazine berichteten. Er habe die Cover »studiert und nach Details gesucht« (ebd.) und er habe vor allem die Credits auf den Beilagen, wie dem Insert von The Wayward Sons of Mother Earth, genau inspiziert. Sie waren Anregung für den Kauf von Alben anderer Bands, denn sie gaben Antworten auf die Fragen: »[W]elche Namen tauchen auf, welche Bands kennen sich untereinander« (ebd.). Über diese beigefügten Informationen ließen sich also »Rückschlüsse aufs Private der Musiker, auf die Vorlieben der Musiker« (ebd.) ziehen, die für das Szenewissen wesentlich waren. Wie bedeutsam Schallplattencover und -beilagen – und dabei insbesondere die Songtexte – für das Hören von Metal-Schallplatten waren, zeigt sich unter anderem daran, dass MF diese Texte, sofern nicht beigefügt, teilweise selbst heraushörte und aufschrieb.

Durch den zunehmend globalisierten Markt für populäre Musik fand die Vinyl-LP schnell Verbeitung, während Schellack an Bedeutung verlor. Das Beispiel von The Wayward Sons of Mother Earth zeigt, dass LPs für jugendliche Metal-Hörer*innen der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre eine wesentliche Rolle als Instrument zur Entdeckung von Musik spielten. Die Musikfans konnten sie in Schallplattenläden kaufen, von denen einige im Laufe der Zeit zu großen Tonträgeranbietern herangewachsen waren – teilweise im Verbund mit Kaufhäusern. Das Wissen um die Musik und Szenen wurde über die LPs und ihre Beilagen, über die Läden, über die Sammlungen anderer Fans, die man auf Kassette kopierte, sowie über den aufkommenden Versandhandel angeeignet und verbreitet. Neu gekaufte Alben wurden auch in der Peergroup auf Kassette überspielt und getauscht (vgl. dazu genauer Niebling 2021: 301 f.). Die Formen der LP-Nutzung reichten vom gemeinschaftlichen Hören bis zum Hören alleine mit der Hülle als ›Begleitlektüre‹ und sie beinhalteten mitunter auch das Anlegen von größeren Schallplattensammlungen, die manche – so auch der interviewte Metal-Fan – bis heute behalten haben.

Nachdem die CD in den 1990er-Jahren zunehmend die Schallplatte abgelöst hatte, ist in vergangenen Jahren wieder vermehrt die Rede von einem »Vinyl-Boom« (vgl. u. a. Garber 2016, Bakir 2017, Rolling Stone 2017, Musikexpress 2019). Die Recording Industry Association Of America (RIAA) prognostizierte für das Ende des Jahres 2019 sogar, dass in den USA Schallplatten die CD als wichtigsten physischen Musikträger erstmalig seit 1986 wieder überholen könnten (vgl. Leight 2019). Diese Voraussagen für den US-amerikanischen Markt basierten auf dem stetigen Anstieg der Verkaufszahlen von Vinyl in den letzten Jahren, bei gleichzeitigem Schrumpfen der CD-Verkäufe. In den USA wurden dabei in der ersten Hälfte von 2019 etwa 8,6 Millionen Schallplatten (224 Millionen US-Dollar) sowie 18,6 Millionen CDs (247 Millionen US-Dollar) verkauft. Auch in Deutschland lag die CD zunächst noch mit einem Marktanteil von 45,4 Prozent zum Jahr 2017 (63 Millionen Einheiten bzw. 722 Millionen Euro) deutlich vorne – insbesondere im Vergleich zu den 4,6 Prozent (3,3 Millionen Einheiten bzw. 78 Millionen Euro), die die Schallplattenverkäufe ausmachten. Allerdings war hier bis 2017 auch ein besonders deutlicher Anstieg zu vermerken. Vinyl-LPs sind ein kleiner, aber stabiler Baustein im Gesamtumsatz der deutschen Musikindustrie. Ein Vorteil von Vinyl gegenüber CDs ist, aus Sicht der Musikindustrie, dass sie höhere Preise erzielen, sodass eine vergleichsweise kleine Marge an Vinyl ähnliche Umsätze generieren kann wie eine größere Menge an CDs. Es gilt allerdings zu beachten, dass die Produktionskosten von Vinyl (2,50 Euro) deutlich über denen von CDs (0,80 Euro) liegen und dass die Produktionszeit für Schallplatten etwa eine Woche länger dauert (Friedrichsen/Grüblbauer/Haric 2015: 151).

Die Gründe für die wiederkehrende Popularität von Vinyl, die dem weitgehenden digitalen Musikkonsum entgegensteht, sind ein Thema der Forschung. Der ursprüngliche Übergang von der Schallplatte zur CD zum Ende der 1980er-Jahre geschah beispielsweise unter den Vorzeichen einer neuen Marktsituation, weniger aus einem Wunsch der Konsument*innen heraus, wie es Jennifer Rauch in Slow Media skizziert: »Record buyers migrated to CD – temporarily, as it happens – not solely because they wanted ›shiny, aluminium, plastic and digital‹ music but because they had less access to the format they preferred« (Rauch 2018: 27). Das »analog revival« (ebd.: 28) sei allerdings komplexer als das Zurückkehren zu einem Format, das man ursprünglich nicht habe aufgeben wollen. Rauch analysiert, wie auch andere Forscher*innen, die Wende zu dem, was sie ›langsame Medien‹ nennt. Diese zeichnet sich durch Aspekte wie Nachhaltigkeit und Achtsamkeit (mindfulness) in der heutigen Medienkonsumlandschaft aus, in der unabhängige Schallplattenläden wieder eröffnen (vgl. Sonnichsen 2016: 190 ff.) und auch andere physische Medien und Apparate, wie Schreibmaschinen oder Armbanduhren, wieder mehr Zuspruch erfahren (vgl. Rauch 2018: 72). Verschiedene Faktoren befeuern das Vinyl-Revival – von nostalgischer Rückbindung (durchaus auch an eine Zeit, die man selbst nicht erlebt hat), über Vinyl als Geldanlage bis hin zu pragmatischen, künstlerischen oder ästhetischen Argumenten (vgl. Bartmanski/Woodward 2015: XIII). Sie haben dazu beigetragen, dass Vinyl zum Mythos geworden ist (vgl. »Mythos Vinyl« im Museum Neukölln, Anonym 2014). Diesen genauer zu untersuchen, wäre ein weitergehendes Untersuchungsthema.

DAS DOSSIER WURDE VERFASST VON LAURA NIEBLING.

Einzelnachweise

[1] Der Interviewpartner möchte auf eigenen Wunsch anonym bleiben. An dieser Stelle sei zudem Sabrina Sengle für ihre Unterstützung im Zusammenhang mit dem Interview gedankt.


Quellen

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Interviews:
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Abbildungen

Abb. 1: ​Die Vinyl-LP The Wayward Sons of Mother Earth. BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur.
Abb. 2: Die Vinyl-LP The Wayward Sons of Mother Earth in ihren verschiedenen Hüllen. BMBF-Projekt Musikobjekte der populären Kultur.